Anna Tamarkina, 1,82 Meter groß, langes dunkles Haar, sitzt in einem Stuttgarter Café. Gerade sind noch Semesterferien. Am Abend vorher hat sie gekellnert. Eigentlich studiert sie nach einem internationalem BWL-Studium aktuell Gesundheits- und Tourismusmanagement, Berufsziel: Außenhandelskammer, Marketing. Ob das was werden wird? „Ich glaube, das Interessante am Leben ist, dass man erst lernt zu leben, während man lebt.“ Das mache das Menschsein aus. Kluge Worte für eine junge Frau, die noch viel vorhat.
Das Verbindende sehen
Aber ihre Welt ist ja auch groß. Weihnachten hat ihre Familie in der Vergangenheit oft mit einer italienischen Familie gefeiert, „was sehr cool war“. Denn das christliche Weihnachten kannte sie nur aus Filmen. Sich amerikanische Filme anzuschauen und chinesisches Essen zu bestellten, sagt sie, sei bei manchen fast so etwas wie eine jüdische Tradition. Weil die Chinesen in Amerika die einzigen waren, die ihre Lokale an Weihnachten geöffnet haben. Sie malt mit ihren Händen An- und Abführungszeichen in die Luft. Tradition, das weiß sie, ist ein bisschen zu hoch gegriffen. Aber sie kenne dieses Ritual eben vom amerikanischen Teil ihre Familie. „Ich bin gerne jüdisch“ sagt sie und geht offen durch die Welt, hat mehr als eine muslimische Freundin, die Kopftuch trägt. Es ist nicht wichtig für sie, denn „sie sind soviel mehr als ihr Kopftuch“. Aber die Leute wollten nur sehen, „was uns unterscheidet“. Anna Tamarkina will das Verbindende sehen. Eine Sichtweise, die in Zeiten zunehmender Spaltung viel Kraft kosten kann.
Die 25-Jährige gehört zur israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg in Stuttgart, hat den jüdischen Kindergarten dort besucht, ist ins jüdische Jugendzentrum gegangen, war dann dort selbst Betreuerin. Jetzt engagiert sie sich in der jüdischen Studierendenunion Württemberg, will so für Sichtbarkeit sorgen und einen sicheren Ort für die anbieten, die sich unsicher fühlen. Sie arbeitet aber auch beim Wizo-Basar der Frauen der Stuttgarter Gemeinde mit, schwärmt vom Essen dort. Verwobener mit dem Jüdischsein kann man kaum sein. Dazu gehört aber auch das Leben mit dem ständigen Polizeischutz vor den Gebäuden und der Gedanke, dass etwas passieren könne. „Ich kenne das gar nicht anders.“
Viele kennen Juden nur aus dem Geschichtsbuch
Es ist die Gemeinschaft, der Community-Gedanke, den sie an ihrem Judentum liebt. Sie mag die Traditionen und das Leben dort. Trotzig klingt es, wenn sie sagt: „Die einzigen Juden, die wir kennen, sind die aus dem Geschichtsbuch – und die sind tot“. Ihre Botschaft aber ist „Hey, seht her, ich bin da und ich werde auch nicht weggehen!“ Soll heißen: Wir sind VfB-Fans ebenso wie Ärzte und Studierende . Wir gehören dazu.
An ihrem Hals baumeln gleich mehrere silberne Kettchen. Der Davidstern und die Hamsa, die schützende Hand, sind für jedermann sichtbar. Hat sie keine Angst vor Übergriffen? Natürlich kennt sie die. Mit der Angst der Oma ist sie groß geworden. Als kleines Mädchen hat ihre Großmutter, die in der Sowjetunion aufgewachsen war, sie immer gewarnt, die Kette mit dem Hamsa-Anhänger nicht zu tragen. Verstanden hat sie das damals nicht, aber die Kette abgelegt.
„Ich bin der Überzeugung, dass Religion eine persönliche Sache zwischen einem und Gott ist.“ Reinreden lassen will sie sich in dieses Verhältnis nicht. Wenn eine christliche Frau ein Kreuz trage, eine Muslima ein Kopftuch, „dann habe ich das Recht einen Davidstern zu tragen“. Sie weiß, dass ihre Körpergröße und ihre stattliche Erscheinung einen gewissen Schutz darstellen – und dass ihr Studienort Geislingen (Kreis Göppingen) mit dem Berliner Hochschulcampus mit seinen Pro-Palästina-Camps nicht unbedingt vergleichbar, die Schwäbische Alb nicht Berlin-Neukölln ist.
Bekannte sind in Israel in der Armee
Wenn andere den Stern aus Sorge um ihre Sicherheit ablegen, respektiere sie das. Aber sie hat nicht vor, ihre Ketten zu verstecken. Auch nicht, nachdem die Kriminalitätsstatistik seit dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel einen deutlichen Anstieg antisemitischer Straftaten zeigt und für das Jahr 2023 mit bundesweit 5164 Fällen einen Höchststand erreicht hat. In Baden-Württemberg haben sich die Zahlen im ersten Halbjahr 2024 mit 260 gegenüber dem Vergleichszeitraum 2023 verdreifacht. Marina Chernivsky und Friedericke Lorenz-Sinai von der Beratungsstelle OFEK für antisemitische Gewalt und Diskriminierung sprechen vom 7. Oktober 2023 als einer Zäsur für jüdische Communities in Deutschland.
Anna Tamarkina Stimme wird leiser. Sie fühlt sich nicht wirklich befugt, über die Ereignisse des 7. Oktober zu sprechen. Der Tag vor einem Jahr liegt für sie noch immer in einem Nebel aus Gefühlen, Informationen und Posts in den sozialen Medien. Aber zugleich ist auch ihr Respekt gegenüber denen groß , die den Überfall am eigenen Leib erlebt haben. Bekannte sind in Israel in der Armee. Die Angst um sie ist riesig. Aber auch ihr eigenes Leben ist nicht unberührt geblieben von jenem Tag. Sie erlebt die Schockwellen in Form des Terroraktes in den Sozialen Medien. Erlebt wie Menschen ohne Kenntnis der Fakten Hass schüren. Und dass ihre Religion automatisch mit der Politik Israels gleichgesetzt wird. „Wir sind doch eigentlich weiter“, sagt sie und meint die Trennung von Staat und Religion.
Ihr Instagram-Account ist nun privat
Nach dem 7. Oktober 2023 hat sie ihren Instagram-Account von öffentlich auf privat gestellt – und versucht so weiterzuleben wie vorher. Als eine dem Leben, Freunden, Begegnungen und Neuem zugewandte junge Frau. Schon den Überfall auf die Synagoge von Halle im Jahr 2019 hat sie versucht, nicht an sich ranzulassen. Damals wollte ein bewaffnetet Rechtsextremer ein Gemetzel in der dortigen jüdischen Gemeinde anrichten. Er scheiterte an der Synagogentür und erschoss daraufhin zwei Passanten. Anna Tamarkina nennt den Überfall der Hamas klar einen terroristischen Überfall. Auseinandersetzungen darüber versucht sie zu vermeiden. Sie weiß, dass sie laut und direkt wird, wenn jemand das Gegenteil behauptet. Es gibt Freunde, die haben sich von ihr entfreundet auf Instagram.
Von der Angst nicht kontrollieren lassen
Sie macht unbeirrt weiter, strahlt eine ungeheure Widerstandskraft gegenüber Dingen aus, die sie runterziehen könnten. „Ich bin jeden Tag froh, dass wir hier leben“. Sie will das Geschenk der Freiheit, das sie durch ihr Leben in Deutschland bekommen hat, einlösen. Und sich von niemandem davon abhalten lassen. „Man merkt erst, wenn es vorbei ist, dass man diese Privilegien nicht mehr hat.“ Die Meinungsfreiheit zum Beispiel. Auf die Shoa und jetzt den 7. Oktober will sie ihr Leben nicht reduziert wissen. Würde die Angst vor Übergriffen siegen, hätten die anderen gewonnen – „und ich bin eine sehr schlechte Verliererin“. Von ihrer Angst will sie sich nicht kontrollieren lassen. Wer Angst hat, verpasse das Leben. Am Abend wird sie wieder zum Sport gehen. Den Jahrestag des terroristischen Überfalls an diesem Montag werde sie wohl auf einer Kundgebung verbringen.