Die Arbeit in einem Waisenhaus in Tansania verändert das Leben der Ludwigsburgerin Pia Witthinrich. Sie erlebt eine Welt voller Gegensätze zwischen Armut, Gewalt und Liebe.
Baraka, sechs Jahre alt, strahlte bis über beide Ohren und sprang aus dem Kleinbus direkt in meine Arme. Diesen Moment werde ich nie vergessen, denn die Kinder im Waisenhaus suchen selten körperlichen Kontakt. Baraka wurde mit einem großen Tumor am Kopf geboren und schon als Baby ins Waisenzentrum gebracht. Mit Spendengeldern konnte eine Operation finanziert und der Tumor entfernt werden.
Aber seine Familie wollte ihn nicht zurückhaben, mit den Narben am Kopf und im Gesicht. Der Stamm der Nomaden und Krieger lebt wie die Vorfahren. Das Massailand erstreckt sich im Norden Tansanias von der Serengeti bis zum Kilimandscharo.
Bildung als Privileg
Im Norden Tansanias wurde 2002 ein Zentrum gegründet, das Waisenkindern, Kindern aus sozial und finanziell schwierigen Familienverhältnissen und aidskranken Kindern ein Zuhause mit Unterkunft, Erziehung, Bildung, Ernährung und gesundheitlicher Versorgung bieten soll. 14 Kinder im Alter zwischen vier und 18 Jahren leben in dem Zentrum. In meinen ersten Wochen habe ich Baraka als sehr schüchtern wahrgenommen. Der Kleine schaute von Weitem zu, wenn ich mit den anderen Kindern Fußball spielte. Inzwischen kannte ich ihn besser und erlebte, wie liebevoll er auf die anderen Kinder achtgibt.
Baraka besucht die 2. Klasse und liebt alle Fächer. Er gehört zu den Klassenbesten und ist enttäuscht, wenn es keine Hausaufgaben gibt. Also gab ich ihm Aufgaben in Mathe und Englisch, die wir dann zusammen lösten, „Thank you, Pia!“. Sowas habe ich in meiner eigenen Schulzeit nie erlebt. Aber Bildung ist in Tansania ein großes Privileg. Die Kinder im Waisenzentrum haben das verstanden, auch die Kleinen. Aber Baraka liebt nicht nur die Schule, sondern auch Bongo Flava, den einheimischen Hiphop. Gerappt wird auf Swahili, der offiziellen Sprache in Tansania. Baraka liebt das Tanzen.
Im Waisenzentrum haben die Kinder zwar ein Zuhause, aber es ist bescheiden. Sie schlafen in den Klassenzimmern, 14 Kinder auf fünf Matratzen. Zum Essen gibt es jeden Tag dasselbe, Gemüse und Obst ist nie dabei. Also startete ich eine Spendenaktion in Deutschland im Freundeskreis und der Familie, kaufte vom gesammelten Geld, 836 Euro, eine Musikbox und organisierte einen Tanzworkshop.
Sie flippten aus vor Freude. „Muziki Pia, muziki“. Baraka war es immer wichtig, dass ich ihm zusehe. Der Anblick der rhythmisch tanzenden Kinder erwärmte mein Herz. Das gesammelte Geld ermöglicht hier so viel. Ich kaufte Wassermelonen, Bananen, Ananas, Äpfel und Avocado.
Zu Weihnachten besorgte ich Malbücher und Buntstifte, ein Fußballtrikot des Lieblingsvereins, Nagellack und Armbänder für die Mädchen, all die Dinge, die sich Kinder überall auf der Welt wünschen, aber hier nie bekommen. Und dann hatte ich immer noch Geld übrig für einen Ausflug in den Dschungel, wo sie Affen und Eulen in den hohen Bäumen entdecken können. Das Beste war, dass man sich an Lianen durch den Wald schwingen kann.
Das waren Glücksmomente. Es gab auch andere. Ein schlimmes Erlebnis war, als ich an einem Samstagmorgen auf das Gelände kam und kein Kind zu sehen war. Das Waisenzentrum liegt außerhalb. Normalerweise rannten die Kinder mir am Wochenende entgegen, wenn sie mich über die Felder kommen sahen. Doch dieses Mal sah ich nur die 14-jährige Anna beim Wasserpumpen am Brunnen. Sie deutete stumm zum Garten zwischen die Mangobäume. Und da sah ich die vier Jungs auf dem Boden sitzen und weinen. Ich nahm Baraka, den Kleinsten, in die Arme. Er bekam vor lauter Schluchzen kein Wort heraus. Alle vier hatten geschwollene Arme mit blauen Striemen – und ich verstand. Schläge gehören hier zum Alltag, eine erlaubte, gängige Erziehungsmaßnahme.
Ich hatte Limonade mitgebracht. Die Kinder hielten sich die kühlen Flaschen an die schmerzenden Stellen. Wie kann man Kinder so verletzen, ich kämpfte selbst mit den Tränen. Ich ging zum Schulleiter, aber er war es, der sie geschlagen hatte! Weil sie einen Ball verloren hatten. Für ihn war das eine angemessene Strafe. Für mich war es unbegreiflich. Das Schlimmste war, dass ich die Kinder nicht beschützen konnte und als junge Deutsche im Praktikum hier akzeptieren muss, dass Schlagen dazu gehört.
Auch die Matron, eine Art Kindermädchen und Haushälterin, die immer vor Ort ist, schlägt, die Lehrerinnen und die Sozialarbeiterin auch. In Deutschland ist es auch erst seit 1973 an den Schulen verboten, seit 2000 im privaten Bereich.
Ich arbeitete meist sechs Tage pro Woche von sieben Uhr morgens bis Sonnenuntergang. Die nächst größere Stadt heißt Moshi, die Menschen bewegen sich zu Fuß oder mit dem Bajaji, dem dreirädrigen Moped über die Sandstraßen. Meine Gasteltern nannten sie „African Massage“ und lachten. Ich erinnere mich, wie ich an meinem ersten Abend in Tansania eingequetscht zwischen meiner Gastmutter und einer Fremden im Bajaji nach Moshi fuhr und mich schwitzend und Staub einatmend gefragt habe, wie ich das aushalten soll. In Tansania ist ein Gefährt nie voll.
Erschütternde Geschichten
Obwohl ich im selben Dorf lebte, in dem das Waisenzentrum liegt, musste ich 40 Minuten zu Fuß durch die Felder laufen, um das Waisenzentrum zu erreichen. Die Kinder leben sehr abseits. Eigentlich schön, dachte ich zuerst. Im „Grünen“. Aber es ist halt nicht grün, sie haben zwar ein großes Gelände und viel Platz zum Spielen. Sind aber weit weg von allem anderen sozialen Leben. Von 7.30 bis 15.30 Uhr ist Schule. Die Schule ist eine Pre- und Primary School und wird von den Waisenkindern sowie von Kindern zwischen drei und zwölf Jahren aus der Umgebung besucht. Insgesamt gehen rund 200 Kinder auf die Schule.
Der älteste Junge im Zentrum ist Hassan, 14 Jahre alt, er lebte dort, weil seine Stiefmutter versucht hatte, ihn umzubringen. Ich kann manchmal kaum glauben, was für Schicksale die Kinder haben. Und was für Heldinnen und Helden es sind, wie sie ihren Alltag meistern, sich umeinander kümmern und so dankbar durch den Tag gehen. Hassan ist schüchtern und sehr intelligent.
An diesem Tag saß er in der unglaublichen Mittagshitze zusammengekauert im Schatten des Schulgebäudes. Ich setzte mich zu ihm, fragte was los sei. Er erzählte mir, dass die Matron ihn zweimal nacheinander mit einem Sack Mais auf dem Kopf zur Mühle geschickt hatte. Das sind 15 Minuten bei 35 Grad durch die pralle Sonne marschieren, eine Plackerei. Und da rief sie ihn schon wieder, er soll einen Beutel Salz kaufen gehen. Wir gingen zusammen zum nächsten Kiosk und unterhielten uns. Hassan kann am besten Englisch von all den Kindern. Auf dem Weg erzählte er, dass der Ausflug in den Wald einer der schönsten Tage in seinem Leben war.
Wie schön, dachte ich, und war zugleich traurig. Hassan wechselte im Januar an die weiterführende Schule mit Internat und ich zog mit ihm los, um ihn für den Schulstart auszurüsten. Den Kindern aus dem Waisenzentrum wird auch die Uni finanziert. Hassan möchte Ingenieur werden.
Ein hilfsbereiter, großer Bruder
Freud und Leid wechselten sich ab während meiner Zeit in Tansania, ein Land, das mich so faszinierte, dass ich mir vorstellen kann, dort zu leben und zu arbeiten. Soviel Nächstenliebe. Die Menschen gehen so herzlich und vertrauensvoll miteinander um – das mag widersprüchlich klingen zum Schlagen der Kinder. Es stimmt eben beides. Ich habe in der Stadt beobachtet, wie ein dreijähriges Mädchen am Straßenrand einen fremden Mann auf dem Motorrad anspricht und die Mutter entspannt war.
Wenn unsere Nachbarin kein Essen hatte, gab ihr meine Gastmutter etwas ab. Manchmal kam mir in den Sinn, dass die tansanische Gesellschaft wie eine große Familie ist, die sich umeinander sorgt. Und dann wieder die Kehrseite: Menschen mit Behinderungen fallen durch das Raster, viele leben auf der Straße und betteln um Geld.
Ramadhani, zwölf, ist der große, hilfsbereite Bruder für alle Kinder. Und die Matron lässt ihn hart arbeiten, weil er muskulös ist. Nebenbei ist er seit Jahren der Klassenbeste. Was Ramadhani über alles liebt ist Fußballspielen. An meinem ersten Tag in der Schule fiel er mir direkt auf. Da wusste ich noch gar nichts über ihn und dachte nur, sein Vater muss stolz auf ihn sein. Die Jungs spielten auf dem Pausenhof, der alles andere als eben ist. Ich spielte mit und es kamen noch ein paar Mädchen dazu. Ramadhani spielte faszinierend gut und war zugleich ein toller Teamplayer.
Die Kinder des Waisenzentrums bekommen vier Mahlzeiten am Tag. Zum Frühstück Uji, Maismehl-Püree mit viel Zucker. Zum Mittag- und Abendessen Makande, ein Eintopf aus Bohnen und Futtermais. Es schmeckt erstaunlich gut und macht auch satt, aber nach drei Monaten konnte ich es nicht mehr sehen. Besteck gibt es ebenso wenig wie Tische und Stühle. Wir essen mit den Händen von Plastiktellern. Ich gab von meiner Portion immer viel an die Kinder ab. „Umeshiba?“, fragte ich manchmal, „Bist du satt?“. Sie schüttelten nur den Kopf. Es gab nie genug. Häufig hockten sie auf dem Boden, pickten die vertrockneten Maiskörner und Bohnen vom sandigen Boden und schoben sie in den Mund. Häufig brachte ich deshalb Kekse oder Bananen mit.
Die Zeit in Tansania hat Pia Witthinrich verändert
Wir können viel lernen von den Menschen, die ein einfaches Leben führen und dabei füreinander da sind. Sie halten mehr zusammen, als ich das aus Deutschland kenne. Wichtig ist, dass ich demütig und offen bin, lernen möchte. Ich habe nicht nur einen Einblick in die Soziale Arbeit bekommen, ich kam aus dem Lernen gar nicht mehr raus. Ich weiß jetzt, wie man auf dem Feuer kocht und Kleidung von Hand wäscht. Wie man kommuniziert, ohne dieselbe Sprache zu sprechen, wie Bohnen und Mangos geerntet werden und wie es ist, ohne fließend Wasser zu leben. Wie man als Lehrerin arbeitet, wenn man keinen Kopierer hat, aber Drei- bis Sechsjährigen das Schreiben beibringen möchte.
Ich schrieb jedem Kind stundenlang die Aufgaben ins Heft und bevor ich fertig war, standen die ersten Kinder wieder an meinem Tisch und wollten, dass ich ihre Aufgaben korrigiere. Ich kann jetzt aus Müll Spielzeug basteln. Ich erlebte, wie es ist, als einzige Weiße im Dorf eine „Fremde“ zu sein und kann ahnen, wie sich „Fremde“ bei uns fühlen.
Für mein Leben und für meine Arbeit in der internationalen Sozialen Arbeit ist das wichtig. Die Zeit in Tansania hat mich verändert. Der Abschied von „meinen Kindern“ war herzzerreißend. Zur Erinnerung an die gemeinsame Zeit bekamen alle von mir ein Perlenarmband. Das kleinste Kind kam zu mir und wischte mir mit seiner kleinen Hand die Tränen von den Wangen.
Ludwigsburger Studierende im Ausland – Wir bieten eine Plattform
Praktika
Studierende der Evangelischen Hochschule absolvieren regelmäßig ihr Praxissemester im Ausland – oft in sozialen Einrichtungen in Ländern des Globalen Südens. Die Einsatzstellen organisieren sie eigenständig, begleitet von fachlicher und sprachlicher Vorbereitung durch die Hochschule. Ein Beispiel ist Pia Witthinrich, ein anderes das Praktikum einer Studentin in Kolumbien, die dort mit traumatisierten Frauen arbeitete, die Opfer von Menschenhandel wurden.
Serie
Diese Reportage ist ein Teil einer Artikelserie, die in Kooperation mit der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg entsteht. Sie dreht sich darum, welche Erfahrungen Studierende der Sozialen Arbeit in ihrem fünften Semester, dem Praxissemester, machen.