Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Über die folgenden acht Jahre kursieren unterschiedliche Darstellungen. Version eins: Reuter genügt es nicht, der erste Mann eines Unternehmens zu sein, das die besten Autos der Welt baut. Stattdessen kauft er auf, was es aufzukaufen gibt: AEG, MTU, MBB, Dornier, Fokker. Daimler wird zum Gemischtwarenladen, der außer Autos Kühlschränke, Lokomotiven und Düsenjets im Angebot hat. Der Egomane Reuter folgt unbeirrt seinem Machtstreben und pflegt seinen übertriebenen Hang zur Selbstdarstellung. Seine Hybris führt unvermeidlich zum tiefen Fall. Die nüchternen Fakten: am Ende von Reuters Dienstzeit verbucht Daimler Milliardenverluste, 80 000 Menschen im Konzern haben ihren Job verloren.

 

Dagegen steht Reuters persönliche Sichtweise: Ende der 1980er zeichnet sich ab, dass der Weltmarkt für Luxuslimousinen gesättigt ist. 50 000 Arbeitsplätze stehen bei Mercedes auf der Kippe. Um den schleichenden Niedergang zu stoppen, muss die Unternehmensbasis verbreitert werden. Der Konzern soll nicht nur auf dem Autogeschäft fußen, sondern auf vielen Beinen stehen, damit sich konjunkturelle Schwankungen intern ausgleichen lassen. Zudem entstehen dadurch Synergien: Auto- und Flugzeugingenieure können gemeinsam fortschrittliche Autos und Flugzeuge entwickeln. Langfristig, davon ist Reuter überzeugt, wird seine Strategie erfolgreich sein.

Doch schon 1995 ist die Geduld der Aktionäre aufgebraucht. Sie interessieren sich nicht für Reuters schönen Traum, sondern für Daimlers schlechte Bilanz. Der Marktwert des Unternehmens soll unter seiner Herrschaft um 37 Milliarden Euro geschrumpft sein, die Presse verpasst ihm den Titel „größter Kapitalvernichter aller Zeiten“. Bei der Hauptversammlung in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle dankt Reuter als Vorstandsvorsitzender ab. Der neue Machthaber Jürgen Schrempp zerschlägt den „integrierten Technologiekonzern“ und nennt die Firmenzentrale, die Reuter für 300 Millionen Euro in Möhringen errichten ließ, „Bullshit Castle“.

Aus seiner Verachtung für Schrempp und dessen Helfer macht Reuter längst keinen Hehl mehr. Sein Nachfolger gehört für ihn zu den gierigen Turbokapitalisten, den Shareholder-Value-Anhängern, denen es nur um die schnelle Gewinnmaximierung geht. Die wahre Werthaltigkeit eines Unternehmens, meint Reuter, spiegle sich nicht im Aktienkurs wieder. Sein Ideal ist der ehrbare Kaufmann, der fürsorgliche Patron.

Moralischer Anspruch und Wirklichkeit

Wie kommt man ganz nach oben? Indem man Eigeninitiative entwickelt, sagt Reuter. Indem man Missstände offen anspricht. Indem man zu seiner Meinung steht. Muss man die Ellbogen einsetzen? Ja, aber nicht um andere wegzuschubsen, sondern um Angriffe abzuwehren.

Im Herbst 1983 bricht Gerhard Prinz, Boss der Daimler-Benz AG, auf seinem Hometrainer tot zusammen. Der Vorstand sucht einen Nachfolger. Reuter, mittlerweile für die Finanzen im Konzern verantwortlich, plädiert für sich selbst, doch die Mehrheit präferiert den Entwicklungschef Werner Breitschwerdt. Reuter gibt nicht auf, entwickelt Pläne für einen „integrierten Technologiekonzern“, schmiedet innerbetrieblich eine Allianz mit dem Produktionschef Werner Niefer und überzeugt den Großaktionär Deutsche Bank von seinen Ideen. Im September 1987 ist er am Ziel: der Aufsichtsrat ernennt ihn zum Daimler-Chef.

Daimler wird zum Gemischtwarenladen

Über die folgenden acht Jahre kursieren unterschiedliche Darstellungen. Version eins: Reuter genügt es nicht, der erste Mann eines Unternehmens zu sein, das die besten Autos der Welt baut. Stattdessen kauft er auf, was es aufzukaufen gibt: AEG, MTU, MBB, Dornier, Fokker. Daimler wird zum Gemischtwarenladen, der außer Autos Kühlschränke, Lokomotiven und Düsenjets im Angebot hat. Der Egomane Reuter folgt unbeirrt seinem Machtstreben und pflegt seinen übertriebenen Hang zur Selbstdarstellung. Seine Hybris führt unvermeidlich zum tiefen Fall. Die nüchternen Fakten: am Ende von Reuters Dienstzeit verbucht Daimler Milliardenverluste, 80 000 Menschen im Konzern haben ihren Job verloren.

Dagegen steht Reuters persönliche Sichtweise: Ende der 1980er zeichnet sich ab, dass der Weltmarkt für Luxuslimousinen gesättigt ist. 50 000 Arbeitsplätze stehen bei Mercedes auf der Kippe. Um den schleichenden Niedergang zu stoppen, muss die Unternehmensbasis verbreitert werden. Der Konzern soll nicht nur auf dem Autogeschäft fußen, sondern auf vielen Beinen stehen, damit sich konjunkturelle Schwankungen intern ausgleichen lassen. Zudem entstehen dadurch Synergien: Auto- und Flugzeugingenieure können gemeinsam fortschrittliche Autos und Flugzeuge entwickeln. Langfristig, davon ist Reuter überzeugt, wird seine Strategie erfolgreich sein.

Doch schon 1995 ist die Geduld der Aktionäre aufgebraucht. Sie interessieren sich nicht für Reuters schönen Traum, sondern für Daimlers schlechte Bilanz. Der Marktwert des Unternehmens soll unter seiner Herrschaft um 37 Milliarden Euro geschrumpft sein, die Presse verpasst ihm den Titel „größter Kapitalvernichter aller Zeiten“. Bei der Hauptversammlung in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle dankt Reuter als Vorstandsvorsitzender ab. Der neue Machthaber Jürgen Schrempp zerschlägt den „integrierten Technologiekonzern“ und nennt die Firmenzentrale, die Reuter für 300 Millionen Euro in Möhringen errichten ließ, „Bullshit Castle“.

Aus seiner Verachtung für Schrempp und dessen Helfer macht Reuter längst keinen Hehl mehr. Sein Nachfolger gehört für ihn zu den gierigen Turbokapitalisten, den Shareholder-Value-Anhängern, denen es nur um die schnelle Gewinnmaximierung geht. Die wahre Werthaltigkeit eines Unternehmens, meint Reuter, spiegle sich nicht im Aktienkurs wieder. Sein Ideal ist der ehrbare Kaufmann, der fürsorgliche Patron.

Moralischer Anspruch und Wirklichkeit

Wird Reuter den hohen ethischen Ansprüchen gerecht? Nicht immer. Zu Zeiten, als Berlin noch nicht einmal sexy, sondern nur arm war, mokiert er sich darüber, dass der nach seinem Vater benannte Ernst-Reuter-Platz verlottere. Auf die Idee, selbst ein paar Mark für die Erhaltung lockerzumachen, kommt er nicht. Schließlich müssen teure Hobbys wie Reiten, Segeln, Skifahren sowie die drei privaten Wohnsitze in Berlin, in Stuttgart und am Bodensee finanziert werden. Zweites Beispiel: 1979 verkündet der Finanzmanager Reuter, Firmenchefs müssten mehr Verantwortung für die Umwelt übernehmen. Doch während seiner Dienstzeit als Daimler-Oberboss kommt die protzigste und spritfressendste S-Klasse in der Mercedes-Historie auf den Markt – sie passte nicht einmal auf die Autoverladung nach Sylt. Dritter Hinweis auf eine Doppelmoral: Edzard Reuter macht Daimler in den 1990er Jahren zum Rüstungskonzern, weil Waffensysteme seinerzeit Wachstum versprechen (was sich nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs als Fehleinschätzung herausstellt).

„Natürlich gibt es solche Widersprüche, ein ideales Leben ist unmöglich“, sagt Reuter. „Man muss sich nach besten Kräften bemühen, aber auch Kompromisse eingehen.“ Im selben Moment kommt seine Frau ins Wohnzimmer und steckt ihm einen Zettel zu: Die Redaktion von Günther Jauch hat sich gemeldet, die Talkshow am Sonntag findet ohne den Gesprächsgast Reuter statt. „Da bin ich richtig erleichtert.“ Er habe eh keine Lust, sich mit den Kubickis dieser Welt herumzustreiten. Wünschte nicht sein Verlag TV- Auftritte, um den Verkauf von „Egorepublik Deutschland“ anzukurbeln, würde er jedes Fernsehstudio meiden. „Meine Gedanken zu Europa habe ich eigentlich für mich selbst geschrieben.“

Am kommenden Samstag wird Reuter 85 Jahre alt. Beschäftigt er sich mit dem Tod? „Selbstverständlich.“ An Gott, Wiedergeburt oder das Paradies glaubt er nicht: „Ich weiß, dass das Leben endlich ist, gerade deshalb muss man das Beste daraus machen.“ Eines Tages wird sein Vermögen an eine gemeinnützige Organisation gehen, die er mit seiner Frau Helga gegründet hat. Die Stiftung setzt sich für ein friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft ein.

„Ich bringe Sie noch hinunter.“ Edzard Reuter geleitet den Besucher durch den Garten, vorbei an eisernen Skulpturen und dem abgedeckten Swimmingpool. Das Tor fällt zu, eine Frage bleibt offen: Warum verbringt ein Schöngeist sein halbes Leben in der Großindustrie, anstatt für seine gesellschaftlichen Ideale zu kämpfen?