Es sind sechs Ziffern, die für Daniel Kessler bis heute einen hohen symbolischen Wert besitzen: 230120. Sie sind sogar Teil seiner E-Mail-Adresse. Am 23. Januar 2020 beginnt für den Rettungssanitäter aus Reutlingen ein neues Leben. Sein altes geht abrupt zu Ende. Sein Leben als Spielsüchtiger. Kessler wandert für dreieinhalb Jahre in den Knast. „Es war“, sagt der 35-Jährige heute, „der entscheidende Wendepunkt in meinem Leben. Erst als die Tür hinter mir zuging, habe ich die Augen für meine Probleme geöffnet.“ Wer weiß, wo seine Spielsucht noch geendet hätte.
Begonnen hat sie harmlos. Mit Bundesliga-Tipps unter Kollegen. Kessler ist 17 und gerade in der Ausbildung, als er zum ersten Mal Geld auf Spiele setzt. Niedrige Eurobeträge, ein Spaß. Mal gewinnt man fünf Euro, mal verliert man sie. Über seine Kollegen kommt der Anhänger des VfB Stuttgart mit Oddset, dem staatlichen Sportwettenangebot, in Verbindung. Um auf dem Heimweg von der Arbeit die Wartezeit auf die S-Bahn abzukürzen, vertreibt er sich am Bahnhof Stuttgart-Zuffenhausen die Zeit mit dem Ausfüllen von Wettscheinen. Es ist das Jahr 2005. Für Kessler wird Oddset zur Einstiegsdroge.
Die fatalen Fehleinschätzungen des Wetters
Er verspielt 50 Euro pro Woche. Schnell mehr, denn Kessler unterliegt zwei fatalen Fehleinschätzungen. Er hält sich erstens für absolut fachkundig in Sachen Fußball. Und denkt zweitens, seine sich häufenden Verluste seien das Ergebnis einer Pechsträhne.
Also spielt er weiter. Und gewinnt auch mal 2000 Euro, was ihn in seiner persönlichen Wahrnehmung nur bestärkt. Ich kann es ja! Dass auch Sportwetten mehr vom Faktor Glück als vom Fachwissen des Spielers abhängen, begreift er erst später.
Mit 20 ist der junge Mann aus Remseck am Neckar mittendrin in der Spielsucht – ohne es zu merken. Kessler verpulvert sein Geld. In örtlichen Wettbüros, die zu jener Zeit aus dem Boden schießen, genauso wie bei Onlineanbietern auf dem Smartphone. Tipico, bet365 und wie sie alle heißen. Klick, Klick, Klick, 200 Euro platziert. Es sind die unmöglichsten Dinge, auf die Kessler setzt. Spiele in einer afrikanischen Liga. Oder darauf, wer als Nächstes einen Eckball zugesprochen bekommt. Geld und Spiele.
Zu jener Zeit ist der Markt noch gänzlich unreguliert, Spielerschutz praktisch nicht vorhanden. Malta wird zum Mekka der Onlineanbieter, die Millionen verdienen und den Profifußball mitfinanzieren und infiltrieren. Lukas Podolski und Oliver Kahn werden zu den bekanntesten Werbegesichtern.
Der junge Daniel Kessler erlebt derweil keine einfache Zeit. Seine Mutter ist der Alkoholsucht verfallen, sein Vater früh und unerwartet verstorben. „Ich nutzte das Wetten auch zur Ablenkung“, erzählt er. Umgeben von Spielen und Quoten und der Aussicht auf einen Gewinn fühlt er sich wie im Rausch. Spiele, auf die er wettet, verfolgt er schweißgebadet. Gewinne führen zur Ausschüttung von Glückshormonen. Kessler ist auf Droge.
1,3 Millionen Spielsüchtige in Deutschland – Tendenz steigend
Und damit nicht allein. Seit Jahren verzeichnen Suchtberatungsstellen einen Anstieg von Glücksspielsüchtigen und solchen, die auf dem Weg dorthin sind. Das Bündnis gegen Sportwetten-Werbung nennt die Zahl von 1,3 Millionen in Deutschland. Viele davon im Bereich Sportwetten, die meisten jung und männlich.
Kessler richtet sich in seinem Doppelleben ein. Zu Hause hat er Frau und Tochter, die nichts von seiner Leidenschaft ahnen. Auch nicht, als dem Familienvater irgendwann das Geld ausgeht. Lange konnte er Rücklagen für Miete und Lebenshaltungskosten bilden, jetzt geht’s ans Eingemachte: das Erbe. Bis zu 500 Euro verspielt er pro Tag.
Der Rettungssanitäter, der so unscheinbar daherkommt, dass man ihn auf der Straße kaum wahrnehmen würde, findet nur noch einen Weg: in die Beschaffungskriminalität. Kessler steigt in den Handel mit hochwertigen Elektronikgeräten ein. Ursprünglich als Nebengewerbe gedacht, um auf legalem Weg mehr Geld zum Wetten zur Verfügung zu haben, entgleitet ihm der dubiose Internethandel schnell. Es mündet in einem permanenten Versteckspiel. Vor den Gläubigern, vor der Familie, irgendwann auch vor den Ermittlungsbehörden.
Bis das Netz aus Lügen der Dauerbelastung nicht mehr standhält. Im August 2019 stehen Beamte der Ludwigsburger Kriminalpolizei mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür. Kesslers Parallelwelt beginnt in sich zusammenzubrechen. Sein betrügerischer Handel fliegt auf, wenig später auch seine Spielsucht gegenüber der Familie. Eine halbe Million Euro, so überschlägt es Kessler später, hat er in all den Jahren verspielt.
Vor dem Amtsgericht Ludwigsburg wird er wegen Betrugs schließlich zu dreieinhalb Jahren verurteilt. Ohne Bewährung. Game over. So wie der Titel seines Buches, das er in der anschließenden Haftzeit schreibt.
„Letztlich war es eine Befreiung“, sagt Kessler, der seine Geschichte in ruhigem Ton und ohne große Emotionen erzählt. Die Haft wirkt wie ein kalter Entzug auf den Wettjunkie. Kein Geld, kein Handy, kaum Freigang – die Tür zur Zockerei ist zu. Gesperrt bei den Wettanbietern ist er obendrein.
Diagnose pathologisches Glücksspiel
Die dreieinhalb Jahre, die meisten davon im offenen Vollzug in Ulm, führen zur Läuterung. Der Haftalltag für den biederen Schwaben inmitten schwerer Jungs, die für ganz andere Dinge einsitzen als er, gerät nicht leicht. Hinzu kommt die Coronapandemie. Kessler schraubt in der Werkstatt für Gardena Gartenschläuche zusammen, schreibt ein weiteres Buch über die Justiz in Baden-Württemberg („The Eländ“) und sinniert über sein Leben: was er seiner Frau angetan hat, seiner kleinen Tochter, sich selbst.
Ein Gutachter diagnostiziert pathologisches Glücksspiel. Kesslers Sucht wird als Krankheit eingestuft. Eine Krankheit, die allenfalls als kontrollierbar gilt. Kessler macht Therapien, besucht Selbsthilfegruppen. Er ist der festen Überzeugung, dass er sie kontrollieren kann. Im Juli 2023 wird er aus der Haft entlassen – und bekommt von seinem Arbeitgeber, dem DRK Esslingen-Nürtingen, eine zweite Chance als Rettungssanitäter. Von seiner Frau genauso. Vielleicht das schönste Geschenk für Kessler; neben dem, endlich seiner Tochter beim Aufwachsen zuzusehen.
Heute kann der 35-Jährige wieder ein halbwegs normales Leben führen. Außer, dass er im Zuge der Privatinsolvenz noch lange Schulden abstottern muss. Über den Gerichtsweg versucht er einen Teil seiner Verluste zurückzugewinnen. Als Argumentationsgrundlage dienen die fehlenden Lizenzen vieler Anbieter in dieser Zeit – sie hätten ihr Geschäftsmodell eigentlich gar nicht anbieten dürfen. Aktuell sind bundesweit zahlreiche Klagen von Spielern bis zum Bundesgerichtshof anhängig. Seine neue Lebensaufgabe sieht Kessler in der Aufklärung. Er engagiert sich in Präventionsprojekten an Schulen und im Bündnis gegen Sportwettenwerbung. „Auch wenn sich durch den neuen Glücksspielstaatsvertrag (er trat 2021 in Kraft; d. Red.) vieles zum Positiven verändert hat, gibt es noch viel zu tun“, sagt der Ex-Wetter. Kürzlich saß er bei einer Veranstaltung in den Räumen des VfB-Fanprojekts auf dem Podium. Thema: Wie fair können Sportwetten sein? Conclusio: Viel zu spät hat der Staat den lange unbegrenzten Markt in gewisse Bahnen gelenkt und ihm Spielregeln auferlegt. Am Ende, darin waren sich die Experten einig, gewinnt trotz allem immer die Bank.
Und damit auch Anbieter wie Winamax, die seit dieser Spielzeit auf den Trikots des VfB Stuttgart für Sportwetten werben. Der langjährige VfB-Fan kann mit dem Werbepartner wenig anfangen, will den Deal aber nicht per se verteufeln. „Klar geht es am Ende ums Geschäft, um die Kohle.“ Dass sein Herzensclub da keine Ausnahme macht und sich für 8,5 Millionen Euro pro Saison für drei Jahre an einen Wettanbieter gebunden hat, nimmt er mit einem „weinenden Auge“, aber letztlich achselzuckend hin. Die Gefahr, sagt der Fußballfan, liege vor allem in der Werbung. Sie suggeriere, es sei nur ein harmloses Spiel. Kessler weiß, dass es nicht so ist.