Frankfurter Buchmesse Im Escape Room der Wirklichkeit

An dieser Art von Zauberlehrling kommt man auch auf einer Buchmesse nicht vorbei. Foto: IMAGO/Marc Schüler/IMAGO/Marc Schueler

Chatbots, die duzen, Autoren, die aus der Rolle fallen, und ein Gastland, dessen Repräsentanten gegen es rebellieren: Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Zur Abwechslung beginnt man in diesem Jahr doch am besten bei Goethe, zumindest in Frankfurt kein ganz unbekannter. Auf dem noch morgenruhigen Platz vor der Paulskirche steht ein rot angestrichener Container. Darin kann man sich einschließen lassen, um in klaustrophobischer Bedrängnis jenen Fluchtreflex nachvollziehen, der den gebürtigen Frankfurter und späteren Weimarer Hofbeamten einmal südwärts über die Alpen getrieben hat. Nur wer imstande ist, einige knifflige Rätsel zu lösen auf den Stationen der Reise, die den Deutschen in der Folge einen unheilbaren Sehnsuchtskomplex eingeimpft hat, findet am Ende den Schlüssel zurück in die Freiheit. Und der Himmel über Frankfurt kann es in diesen Tagen durchaus mit dem römischen aufnehmen, unter dem Goethe seine Wiedergeburt erfahren hat. Vermutlich wieder ein paar Grad zu warm, aber das passt zum Ehrengast der weltgrößten Bücherschau.

 

„The Great Escape Room“ auf dem Frankfurter Paulsplatz führt über die wichtigsten Stationen von Goethes Italienreise in die Freiheit. Foto: dpa/Andreas Arnold

Italien auf der Buchmesse, das könnte fantastisch sein, ist es aber nicht“, sagt eine der bekanntesten Autorinnen des Landes, Francesca Melandri, auf einem Podium. Der Grund dafür hat mit den schleichenden Einschränkungen der Freiheit durch die rechte Regierung in Rom zu tun. Neben ihr sitzt Antonio Scurati, dessen monumentalen dreibändigen Mussolini-Roman „M“ man eine Autopsie des italienischen Faschismus nennen könnte, wenn sich das, was er beschreibt, nicht als quicklebendig erweisen würde: Aufgebracht schildert der Historiker und Autor, wie im staatlichen Fernsehen und Teilen der Presse Stimmung gegen ihn gemacht werde. Hetzbeiträge übersetzten das Initial seines Roman-Titels mit dem exkrementalen Schimpfwort „merda“, entsprechende Schmierereien haben sich schon an der Wand seines Hauses gefunden.

Hässlicher Kulissenzauber

Gegen Intellektuelle würden Disziplinarverfahren angestrengt, erzählt Paolo Giordano, der mit dem Roman „Die Einsamkeit der Primzahlen“ bekannt wurde, nun aber eine zusehende Vereinsamung innerhalb der populistischen Mobilmachung beklagt. Folgt man dem Lagebericht der drei scheint sich das Land langsam in einen Escape-Room zu verwandeln, ohne dass ein rettender Schlüssel in Aussicht stünde. Aber genau, um sich darüber zu verständigen, ist eine Messe schließlich da. Italien ist in diesem Jahr nicht nur Ehrengast, sondern zentrales Thema, um nicht zu sagen Problem, auch weil es in politischen Dingen schon oft eine beunruhigende Vorhut gebildet hat.

Selten hat man in Frankfurt erlebt, dass die wichtigsten literarischen Stimmen so radikal Opposition zu einem Gastland bezogen haben, das normalerweise antritt, um mit ihnen zu prunken. Doch im italienischen Pavillon sonnt man sich lieber im eigenen Glanz, feiert Bellezza und la Piazza. „Spotthässlich“ findet Scurati den protzigen Kulissenzauber. Er steht unter dem Motto „Verwurzelt in der Zukunft“ – für den Mussolini-Biografen wäre es jedoch höchste Zeit, endlich die Wurzeln zum Faschismus zu kappen.

Fragwürdige Reminiszenzen im italienischen Pavillon Foto: dpa/Andreas Arnold

An gleicher Stelle saß vor einem Jahr kurz nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober der jüdische Leiter der Anne-Frank-Bildungsstätte, Meron Mendel, auf dem Podium, tief befremdet darüber, dass im Falle Israels das angegriffene Land sofort unter Rechtfertigungszwang gestellt wurde. Nun sitzt er wieder da, mit seiner Frau, der muslimischen Publizistin Saba-Nur Cheema. Was hat sich in diesem Jahr getan? „Die Gräben sind tiefer geworden“, sagt Cheema. Von dem offiziellen Mitgefühl seitens der Politik sei in der Gesellschaft nichts zu spüren, fügt ihr Mann hinzu: „Entweder schlägt das Herz für die Juden oder die Palästinenser, dazwischen gibt es nichts.“ Wie in keinem anderen Konflikt der Welt herrsche ein Positionierungszwang, sagt Mendel: „Wer aus der Reihe des eigenen Lagers tanzt, ist allein.“

Wie man Krisen bewältigt und in zauberhafte Literatur verwandelt hat die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises Martina Hefter in „Hey guten Morgen, wie geht es dir“ vorgemacht, auf einen Schlag wurde sie zur gefragtesten Figur der Messe, und muss sich nun auf beharrlich wiederkehrende Fragen immer neue Antworten überlegen: „Vielleicht mache ich einmal über all diese Gespräche eine Performance“, sinniert sie auf einer der Lesebühnen. Als die Auszeichnung für ihren Roman verkündet wurde, entfuhr dem ebenfalls als heißer Kandidaten für den Preis gehandelte Clemens Meyer der nicht unbedingt höfliche, aber durchaus romantitelfähige Satz: „Scheiß-Entscheidung, fick dich Jury, jetzt bin ich pleite.“ Er verweist auf die prekäre ökonomische Situation, unter der all das entsteht, was hier gefeiert wird.

Romantische Weltfluchtangebote

Der frischgebackene Büchner-Preisträger Oswald Egger hat vorerst ausgesorgt. So verstrubbelt, wie seine Wortlandschaften schwer zugänglich, gibt er irgendwo im Gemenge Auskunft über sein Schaffen, für das ihm Anfang November die mit 50 000 Euro dotierte Auszeichnung verliehen wird. Pleite abgewendet. Er verbringe sehr viel Zeit mit seinen Texten, doch: „Das nächste Wort ist immer das schwerste.“

Auf der anderen Seite des Spektrums von dem hermetischen Hochrisikopoeten aus gesehen findet sich das Segment, das die Verlagsbranche gerade von ihren Pleiteängsten erlösen soll. Um dem Ansturm derer gewachsen zu sein, die den niederschmetternden Gegenwartsdiagnosen des kulturpolitischen Forums im Frankfurt Pavillon romantisch oder fantastisch verbrämte Weltfluchtangebote vorziehen, wurde eine eigene Halle eingerichtet. New Adult, Romance versprechen Liebe, Schicksal, Sternensand und vor allem viel Umsatz. Man muss die Ohren nicht allzu sehr spitzem, um in den englischen Genrebezeichnungen knallhart kalkulierenden Marketingsprech mitzuhören.

Bei Chest of Fandoms findet man Sonderausgaben erfolgreicher Titel. Zwei Buchhändlerinnen-Azubis wenden begeistert eine mit Farbschnitt und wuchernd ornamentaler Einbandprägung versehene Ausgabe von Adalyn Graces Booktok-Burner „Die Berührung des Todes“ in den Händen – „eine verbotene Liebe und ein Geheimnis, das alles zerstören könnte“, verspricht der Klappentext. „Wenn ich einen Roman sehr mag, finde ich es toll, wenn es da noch eine schönere Ausgabe gibt“, sagt die eine der angehenden Händlerinnen, „wir sammeln das“, ergänzt ihre Kollegin. Um die Zukunft ihres gewählten Berufsbildes machen sich beide keine Sorgen, warum auch, solange Bibliophilie in so vielen Farben blüht.

Offenbar ist auch in diesem Fach das nächste Wort immer das schwerste. Eine Texthexe, wie sich ein auf das Genre spezialisierter Lektoratsservice für Selfpublisher nennt, gibt Hinweise, wie Künstliche Intelligenz beim Schreiben hilft. Wie soll der Kampf eines Helden mit einem Monster im Wald ausgehen? „Es ist verlockend, sich einen Text vorschreiben zu lassen, man sollte aber schon noch einmal drübergehen“, empfiehlt die Texthexe.

In einer anderen Diskussionsrunde berichtet der isländische Autor Halldór Gudmundsson von seinen Versuchen mit dem neuen Zauberlehrling KI: Wirklich unheimlich sei es ihm geworden, als sein Chatbot ihn nach einigen Wochen zu duzen begonnen habe.

Neben Italien ist KI das Thema der Stunde, und auch das, was da in der Zukunft wurzelt, gibt Grund zu Beunruhigung. Das ganz große Fass der Pandora macht einer der Superstars dieser Messe auf: Der israelische Historiker Yuval Noah Harari erläutert vor voll besetztem Auditorium das Paradox, dass die Menschheit zum ersten Mal in der Geschichte dabei sei, die Kontrolle über die menschliche Kommunikation nicht-menschlichen Technologien zu überlassen. Und die verfolgen andere Zwecke als die der Verständigung, zum Beispiel den, die Leute so lange wie möglich auf Plattformen zu halten, um an ihre Daten zu gelangen. Mit Hass gelinge das besser als mit Liebe. Die Fülle an Informationen macht die Welt zu keinem besseren Ort: Demokratien erodieren, das Klima kollabiert, Kriege toben. „Wir müssen so schnell wie möglich langsamer werden“, sagt Harari.

Ist das der Schlüssel? Am Ende eines langen Messetages erscheint die ganze Welt ein wenig wie ein Escape-Room. Man verspürt einen gewissen Fluchtreflex. Es muss ja nicht immer gleich Italien sein.

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