Friedemann Vogel ist als Balletttänzer in der ganzen Welt unterwegs. Nun gibt der Erste Solist beim Stuttgarter Ballett ein weiteres spannendes Rollendebüt: „Onegin“.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Zwei große Tänzerrollen bietet John Crankos großes Handlungsballett „Onegin“: den quirligen, überaus sympathischen Dichter Lenski hier, den höchst schwierigen, unzugänglichen Gutsbesitzer Onegin dort. Für das Stuttgarter Ballett gehört das Stück zum Fundament des Spielplans. Hier wurde es 1965 uraufgeführt, von hier aus wurde es in der ganzen Tanzwelt bekannt, hier haben in den fast fünfzig Jahren seitdem alle großen Solisten ihre persönlichen Interpretationen auf die Bühne gebracht.

 

Und nun kommt der Erste Solist Friedemann Vogel an die Reihe. Die Rolle des Lenski hat er schon seit einigen Jahren im Repertoire. Dass erst jetzt in der Vorstellung am 9. Januar sein Stuttgarter Rollendebüt als Onegin folgt (so etwas wie die Generalprobe war bei einem Gastspiel der Kompanie in Bangkok im Herbst), wird manche womöglich überraschen – schließlich gehört Vogel seit zwölf Spielzeiten zur ersten Tänzerriege am Staatstheater. Umso mehr darf man auf seine über viele Jahre gereifte Sicht auf die Rolle gespannt sein. „Mit dem Onegin läuft es einfach so ganz anders als mit dem Lenski“, erklärt Vogel die Unterschiede. „Wenn der Lenski auftritt, ist er wahnsinnig aktiv. Als Lenski muss man hier und da sein, auf alles achten, für alle da sein. Onegin dagegen kommt und bleibt auf Distanz. Er beobachtet, schätzt ein, macht alles so ein bisschen von oben herab. Und trotzdem ist er attraktiv, anziehend, interessant. Das ist alles erst mal viel mehr Ausdruck als reiner Tanz – und deswegen sehr spannend“.

Ein journalistisches Gespräch mit Friedemann Vogel ist, wie so oft bei Tänzern, eine äußerst entspannte und angenehme Angelegenheit: Trotzdem der gebürtige Stuttgarter seit einiger Zeit zu den am meisten gelobten und auf vielen Bühnen beschäftigten Künstlern gehört, obwohl ihn Gastspiele inzwischen kreuz und quer durch die Welt führen, von Wien, Mailand, Paris, London über St. Petersburg und Moskau bis nach Tokio und Hongkong, hat man es im hiesigen Ballettsaal des Staatstheaters mit einem überaus bodenständigen, unprätentiösen, ruhigen, stark reflektierenden Mann zu tun – von theatralischer Starattitüde keine Spur.

Unterwegs zwischen Paris und Santiago de Chile

Wohin war er im vergangenen Jahr überall unterwegs? „Oh je . . .“ Er selbst bekommt es nicht mehr zusammen. Zum Glück kann später die Pressesprecherin des Balletts ihre Datenbank aktivieren: erst „Diamonds“ mit Polina Semionova an der Mailänder Scala, dann Ballettgala an der Pariser Oper, dann „Romeo und Julia“ von Derek Deane in der Royal Albert Hall in London, gefolgt von der Nurejew-Gala mit Isabelle Ciaravola an der Staatsoper in Wien, kurz vor einem Auftritt mit dem Ballett in Santiago de Chile und bei der High Season mit dem Mikhailovsky Ballet in St. Petersburg – wir brechen lieber ab, die Namen und Orte kann sich auch der Leser nicht merken.

Wie bleibt man bei soviel Nachfrage nach der eigenen Kunst gut verwurzelt im Boden der alltäglichen Zwänge und Tatsachen? „Ich glaube, es ist unsere Disziplin, die uns Tänzer jeden Tag neu auf den Boden zurückholt. Klar, es ist unglaublich schön, wenn einem die Fans zu den Gastspielen nachreisen oder wenn im Hotel Blumen abgegeben werden oder vor dem Theater die Autogrammjäger warten. Aber unsere Tage sind genau getaktet. Um zehn Uhr beginnt das Training. Um sechs am Abend endet die Probe. Dann kommt vielleicht noch eine Vorstellung. Am nächsten Tag geht es von vorn los. Da ist gar keine Zeit für Allüren.“

Keine Frage, Friedemann Vogel hat seine Fans – und er versorgt sie auf einer äußerst professionell gestalteten Internetseite mit allen nötigen Informationen und Bildern. Eines seiner Markenzeichen als Künstler ist, dass sich die enorme körperliche Kraft, über die jeder Tänzerkörper verfügen muss, bei ihm rein äußerlich weniger in Muskelpaketen niederschlägt. Er wirkt eher schlank als athletisch – und kann daher auf der Bühne umso mehr beeindrucken mit einer Technik und Präzision, die scheinbar so leicht und selbstverständlich, fast wie nebenbei erledigt ist, dass sich ein enormer Raum öffnet für den Ausdruck, die Psychologie der Figuren.

Alle Vogel-Kinder landen beim Theater

Vier Brüder hat Friedemann Vogel – und keiner hat es wie der Vater zum Ingenieur gebracht, sondern alle zum Theater verschlagen: zwei als Orchestermusiker, einer als Dramaturg beim Schauspiel. Roland Vogel, Nummer vier, war selbst einst Erster Solist beim Stuttgarter Ballett. Friedemann, der jüngste von den Stuttgarter Fünf, ist an der Akademie für klassischen Tanz in Monte Carlo ausgebildet worden. Aber seine eigenen allerersten Balletterlebnisse hat er eben im Großen Haus in Stuttgart gemacht: „Das ist doch das Verrückte: Ich habe hier schon als Kind den ,Onegin‘ gesehen und bewundert.“ Wer tanzte damals die Hauptrolle? „War es Richard Cragun? Der war jedenfalls auch in dieser Rolle fantastisch.“

Wie fantastisch auch Friedemann Vogel wirkt, konnte das Stuttgarter Publikum gerade jüngst beim „Lied von der Erde“ von Kenneth MacMillan erleben. Vogel hat da die Partie des „Ewigen“ verkörpert. Schlank, klar, vornehm, edel agiert er auf der Bühne. Nichts an seinem Einsatz ist zu viel, zu drastisch, wirkt überladen oder gar aufgesetzt. Er gibt dem „Ewigen“ eine Präsenz, dessen Stärke sich gerade in jenen Mahler-Liedern am stärksten auswirkt, in denen er gar keine große Rolle spielt, sondern nur zitathaft dazu kommt. Nur wenige Augenblicke ist er dann da – aber schon hat der Zuschauer den roten Faden des Abends, die Leitidee wieder präsent. Und dass es dann im sechsten Satz, beim „Abschied“ auch zu tänzerischer Bravour kommt – das ist bei einem Tänzer diesen Ranges beinahe selbstverständlich.

Ein Tänzer, der trotz aller Weltreisen das Stuttgarter Ballett weiter als seine Basis sieht: „Nirgendwo sonst hätte ich mich so entwickeln können, nirgendwo ist der Tanz auch im Publikum so gut verankert.“ Und da der Stuttgarter Intendant Reid Anderson ihm die Freiheit der Gastauftritte gibt, ist er viel unterwegs und doch immer wieder hier. „Die vielen Flüge sind gut zum Einstudieren neuer Rollen.“ Wie das, im Sitzen? „Erst mal studiere ich die Videos der Rollen auf meinem I-Pad. Dabei kann ich mir die einzelnen Schrittfolgen schon mal im Kopf abspeichern.“ Ist das nicht sehr kompliziert? „An sich ist das prima mit dem Tablet. Einziges Problem: man muss sich alles spiegelverkehrt merken, weil auf den Schirm sehe ich ja als Zuschauer, nicht die Tänzersicht.“ Der Tänzer als Hirnarbeiter, so haben wir das noch nicht gesehen. „Sie werden lachen“, sagt da Friedemann Vogel, „das Hirn ist auch für den Tänzer das wichtigste Organ.“