Bedeutende Romane, weltweit gespielte Dramatik, rabenschwarze Krimis und eine florierende Kinderliteratur. Es ist eine breite Palette, über die das diesjährige Gastland der Leipziger Buchmesse verfügt. Auch wenn die Kronprinzessin Mette-Marit krankheitsbedingt ihren Auftritt kurzfristig absagen musste, zeigt sich an ihrer Rolle als Botschafterin der norwegischen Literatur, welchen Rang dieselbe in ihrem Land einnimmt. Aber wie kommt eine kleine Nation mit gerade fünfeinhalb Millionen Einwohner zu einer so lebendigen und reichen Literaturszene?
Entscheidenden Anteil hat eine einzigartige Form der Literaturförderung, erklärt Andrine Pollen. Sie hat das umfangreiche Programm koordiniert, mit dem sich Norwegen in Leipzig präsentiert. Mit der sogenannten Ankaufsregelung verpflichtet sich der Staat zur Abnahme eines bestimmten Kontingents von Büchern, sofern sie entsprechenden künstlerischen Kriterien genügen. Das ermöglicht den Verlagen, ins Risiko zu gehen, Bücher zu verlegen, ohne immer auf Verkaufszahlen schielen zu müssen. „Autoren können sich dadurch in Ruhe entwickeln, Dinge ausprobieren, mit Genres experimentieren, zum Beispiel auch auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur“, sagt die Literaturvermittlerin. Junge Leute bekommen dadurch gute Bücher, was wiederum deren Interesse an Literatur begünstige.
Autorinnen und Autoren sind in Norwegen sehr präsente und wichtige Gestalten. Andrine Pollen hat gegen Ende der 1980er Jahre in Bergen studiert, einer ihrer Kommilitonen war ein gewisser Karl Ove Knausgard, Schüler eines noch weitgehend Unbekannten namens Jon Fosse. Mit seinen sich den Lesenden nicht unbedingt an den Hals werfenden asketischen Texte hat letzterer sicher auch von der Ankaufsregelung profitiert, mittlerweile wurde ihm der Literaturnobelpreis zuerkannt. Doch es kommt vieles nach.
Chat mit der Gegenwart
Einer der Shootingstars der jungen norwegischen Literatur ist der 19-jährige Oliver Lovrenski. Nach Leipzig hat er einen Roman mitgebracht, dessen Titel den Ton vorgibt: „Bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann“ (Hanser Berlin). Eine Jugend in Oslo, Schlägereien, Liebe, Drogen als ein teilweise auf dem Handy mitgetippter Bewusstseinsstrom. In diesem Chat mit der Gegenwart trifft ungeschönte „street credibility“ auf die sprachliche Situationskomik eines digitalnativen Rotwelsch.
Wer eher zu Downton Abbey als zu Bandenkriegen tendiert, findet in Sigrid Boos neu aufgelegtem Bestseller früherer Zeiten „Dienstmädchen für ein Jahr“ Zuflucht: Eine junge Frau aus gutem Haus wechselt die Seiten innerhalb der norwegischen Klassengesellschaft der 20er Jahre. Auch das gehört zu den Entdeckungen dieser Messe, Literatur, die die Zeit verschlungen hat und welcher der Rowohlt Verlag eine eigene Reihe gewidmet hat.
Die Verarbeitung der Vergangenheit auf autofiktionalem Terrain hat Vigdis Hjorth zu einer der wichtigsten literarischen Stimmen ihres Landes gemacht. Bisher waren Autoren wie Knausgard oder Tomas Espedal die Platzhirsche auf diesem Gebiet. Ihre Romane „Ein falsches Wort“ oder „Die Wahrheiten meiner Mutter“ handeln von einem Leben im Bann verdrängter Verletzungen, sexueller Übergriffe und zerrütteter Beziehungen und haben in Norwegen eine heftige Debatte ausgelöst, inwieweit sich hier reale Ereignisse aus dem engsten Umfeld der Autorin und Erfindung verschlingen.
Auch ihr neuer Roman „Die Wiederholung“ (S. Fischer) kreist um einen Missbrauchsfall. „Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück“ – dieser Stimulus des Zurückliegenden, Unabgegoltenen treibt Hjorths Schreiben voran, hier in die emotionale Abgründigkeit einer höchst ambivalenten Beziehung zwischen Mutter und Tochter.
Facetten des Fanatismus
Eine andere Vergangenheit klopft an die Tür von Simon Strangers „Museum der Mörder und Lebensretter“ (Eichborn): Norwegen zur Zeit der deutschen Besatzung. Die Geschichte der jüdischen Familie Feldmann, die auf der Flucht vor den nationalsozialistischen Schergen von ihren Fluchthelfern ermordet wird, ist angelegt als ein Rundgang durch eine Sammlung von Exponaten, die der Roman zum Sprechen bringt.
Der Literaturaustausch von Norwegen nach Deutschland war noch nie so stark wie heute. Gab es früher schon einzelne enorm erfolgreiche Autoren, hat sich in den letzten Jahren aus punktuellen Erfolgen eine breite Präsenz entwickelt. In der Messestadt ist einer von ihnen Tore Renberg. Sein Roman „Die Lungenschwimmprobe“ (Luchterhand) greift den historischer Fall einer angeblichen Kindsmörderin aus dem Leipzig des späten 17. Jahrhunderts auf. Die Kollision von spätmittelalterlichem religiösem Fanatismus und beginnender Frühaufklärung wird zum Zündfunken der modernen Rechtsmedizin. Eine Stadtwanderung durch Leipzig führt an Schauplätze des Geschehens.
Zwischen Deutschland, Österreich, der Schweiz und Norwegen verlaufen die Lebenslinien von Wencke Mühleisen. Norwegerin die Mutter, Slowene der Vater – und überzeugter Nazi. Über die Berührungspunkte extremer Ideologien hat sie in ihrem Buch „Du lebst ja auch für deine Überzeugung“ geschrieben, das ihre Jahre in der autoritären Kommune des Wiener Aktionskünstlers Otto Muehl verarbeitet. Damals ging es darum, das Gesellschaftssystem durch sexuelle Befreiung zum Einsturz zu bringen. Heute gibt es Tinder. In ihrem neuen Roman „Alles wovor ich Angst habe, ist schon passiert“ (Nagel und Kimche) fragt sie nach den Möglichkeiten einer Frau fortgeschritteneren Alters auf Dating-Plattformen. Mit melancholischem Witz und rebellischem Mut wagt sie sich in die einsamen Abgründe der Online-Vergesellschaftung, in denen als attraktiv immer nur die junge Frau gilt.
Doch auch eine feste Beziehung kann Sprengstoff beinhalten, der mit den Jahren immer entzündlicher wird, bis er während des Urlaubs in einem norwegischen Sommerhaus explodiert. Lustvoll jagt Linn Stromsborg in „Verdammt wütend“ (Dumont) das ganze Regelwerk familiärer Leidensbereitschaft in die Luft, das einer Frau in den besten Jahren ihres Lebens den Atem geraubt hat.
Frischer Wind aus dem Norden. Einen Wunsch hat Andrine Pollen: Dass nach dieser Messe jedem vor sofort vor Augen steht: Das Gastland war dieses Mal Norwegen. Der Wunsch könnte in Erfüllung gehen.
Info
Leipzig liest
Die diesjährige Leipziger Buchmesse steht unter dem Motto „Worte bewegen Welten“. Vom 27. bis 30. März stehen mehr als 2000 Veranstaltungen auf dem Programm des Lesefestivals „Leipzig liest“. Alles, was Rang und Namen in der Literaturwelt hat, verteilt sich auf die in der Stadt verteilten Lesebühnen: Bestseller-Autoren, Literatur-Nobelpreisträgerinnen wie Swetlana Alexijewitsch und Olga Tokarczuk, Newcomer oder die Altkanzlerin Angela Merkel, die im Leipziger Gewandhaus aus ihrer Biografie „Freiheit“ liest.
Comic-Con
Mit der Messe verbunden ist die Manga-Comic-Con – in Leipzig hofft man, die vorwiegend jungen, häufig verkleideten Besucherinnen und Besucher dieser Veranstaltung als künftige Leser gewinnen zu können.
Neuerungen
Die Messe hat erstmals eine „Audiowelt“ eingerichtet. Auf einer Bühne und in drei Hörinseln können Interessierte audiovisuelle Inhalte vom Hörbuch bis zum Podcast entdecken. Ein neues Gesprächsforum beschäftigt sich mit den Auswirkungen Künstlicher Intelligenz in Demokratie, Politik, Kunst und Kultur.
Preise
Zum Auftakt wird am 26. März wird der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung an den belarussischen Schriftsteller Alhierd Bacharevič für seinen Roman „Europas Hunde“ verliehen. Am 27. März werden die Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung bekannt gegeben.