Um 21.10 Uhr beendeten Elitepolizisten des Spezialeinsatzkommandos Baden-Württemberg die Geiselnahme in einer Karlsruher Apotheke. Die Beamten nahmen einen 20-jährigen Verdächtigen fest, der der Polizei bekannt ist.

Um 21.10 Uhr explodierten vier oder fünf Granaten. Ohrenbetäubend, mit grellem Blitz. Dann drangen zehn Beamte des SEK in die Congress-Apotheke in der Karlsruher Innenstadt ein und überwältigten einen 20-jährigen Mann, der elf Menschen als Geiseln gefangen hielt. Vier Stunden und 50 Minuten, nachdem der polizeibekannte Tatverdächtige die Frauen und Männer gekidnappt hatte, war die Geiselnahme in wenigen Sekunden beendet, ohne dass der Täter oder eine der Geiseln körperlich verletzt wurden.

 

Dabei war der Zugriff zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geplant. Offenbar mit einem sogenannten Notzugriff befreiten die Elitepolizisten die Menschen aus der Gewalt des mutmaßlichen Straftäters. Dieses Einsatzverfahren mit einem hohen Erfolgsrisiko wählen Polizisten, wenn das Leben von Geiseln akut in Gefahr ist, die Vorbereitungen für einen risikoärmeren Zugriff aber noch nicht abgeschlossen sind. In Karlsruhe soll ein Schussgeräusch der Auslöser für den Sturm in die Apotheke gewesen sein.

Blendender Blitz, Gleichgewicht störender Knall

Die Explosion sogenannter Flashbangs – handgroße, zylinderförmige, 380 Gramm schwere Granaten – erschüttert mit einem etwa 180 Dezibel lauten Knall das Gehör. Und stört damit den Gleichgewichtssinn eines Menschen. Parallel zum Knall wird ein gleißender, 8000 Lumen heller Blitz freigesetzt, der einem Täter für Sekunden die Sicht und Orientierung nehmen soll. Mehrere Explosionen aus verschiedenen Quellen sollen Geiselnehmer so für den kritischen Moment verwirren und außer Gefecht setzen, in dem SEK-Beamte in ein Gebäude wie die Karlsruher Apotheke eindringen.

In die war gegen 16.20 Uhr der junge Mann eingedrungen, bekleidet mit einem weißen Maleroverall, maskiert, bewaffnet mit einer Handfeuerwaffe – wohl eine Schreckschusspistole, wie die Polizei am Folgetag mitteilte. Am Freitagnachmittag befanden sich nach Informationen unserer Zeitung zwei Kunden in der Apotheke, die als erste Geiseln genommen wurden. Mindestens sieben Mitarbeitern jedoch gelang es offenbar, sich in den hinteren Räumen der Pharmazie solange zu verstecken, bis das SEK die Geschäftsräume stürmte.

Hatte der Täter eine Komplizin?

Unklar war zunächst die Rolle einer Frau, die die Polizei zeitweise als weitere Geiselnehmerin einstufte. Staatsanwaltschaft und Polizei gingen „im Rahmen ihrer Ermittlungen nun unter anderem der Frage nach, inwieweit es sich bei einer der insgesamt elf Geiseln womöglich auch um eine Mittäterin des Festgenommen handeln könnte“, hieß es in einer Pressemitteilung. Inzwischen geht die Polizei davon aus, dass der Tatverdächtige allein handelte.

Der mutmaßliche, deutsche Geiselnehmer sei der Polizei wegen Gewalt-, Eigentums- und anderen Delikten bekannt. Bislang ist den Ermittlern nicht bekannt, warum der Mann versuchte, Geld für die Freilassung seiner Geiseln zu fordern. Der Tatverdächtige soll in mehreren Gesprächen mit besonders geschulten Verhandlungsexperten ein Lösegeld in Höhe von sieben Millionen Euro gefordert haben.

Anrufer hatten die Polizei um 16.23 Uhr mit Notrufen über die Geiselnahme informiert. Zwei Minuten später trafen erste Streifenwagen in der Ettlinger Straße ein. In den folgenden Stunden sperrte die Polizisten die Gegend um die Apotheke weiträumig ab. Anwohner wurden aufgefordert, ihre Wohnungen nicht zu verlassen.

Pizza für die Schutzsuchenden in der Grundschule

In der nah gelegenen Nebenius-Grundschule war eine Notunterkunft eingerichtet worden, in der zwischen 40 und 50 Menschen betreut wurden: Anwohner ebenso wie Autofahrer, die in einer der abgesperrten Straßen ihre Autos geparkt hatten. Ein italienischer Gastronom in der Nachbarschaft habe den Schutzsuchenden mehrere XXL-Pizzen geschenkt, berichtete eine der Betreuten. Karlsruhes Oberbürgermeister Frank Mentrup (SPD) besuchte Unterkunft. Er sicherte zu, Hotelbetten für die Gestrandeten zu organisieren, sollte sich die Krise länger hinziehen.

Nur 250 Meter gegenüber dem Tatort liegt das Konzerthaus Karlsruhe, in dem am Freitagabend Martin Rütter vor ausverkauftem Haus auftreten sollte. Der Hundetrainer rief seine Fans über die Plattform Instagram auf, die Innenstadt zu meiden: „Die Veranstaltung ist jetzt gerade abgesagt worden, und zwar deshalb, weil Luftlinie 100 Meter in einer Apotheke eine bewaffnete Geiselnahme stattfindet. Bitte kommt nicht zur Halle, es ist hier großflächig abgesperrt, und bitte kommt auch nicht in die Nähe.“ Eine Sprecherin der Karlsruhe Messe ergänzte, dass zudem ein Konzert abgesagt worden war.

Gegen 22.30 Uhr hob der Polizeiführer des Einsatzes, Ralf Krämer, die Absperrungen in der Innenstadt auf. Das SEK kehrte in seinen Heimatstandort Göppingen zurück.

Landespolizeipräsidentin wollte SEK auflösen

Baden-Württembergs Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz hatte erst vor zwei Wochen vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages zur Polizeiaffäre eingeräumt, sie habe 2021 mit dem Gedanken gespielt, die Spezialeinheit aufzulösen. Konkrete Gründe dafür konnte oder wollte die Juristin den Abgeordneten nicht nennen. In ihrer Gegenwart, so gestand die Spitzenbeamtin auf drängende Nachfragen, habe der wegen sexueller Verfehlungen vom Dienst beurlaubte Inspekteur der Polizei, Andreas Renner, despektierlich von den Elitepolizisten als „in ihren Strampelanzügen nett anzusehende Jungs gesprochen“. Sie habe weder sofort eingegriffen noch Renner später auf diese Beleidigung angesprochen und gemaßregelt.

Der innenpolitische Sprecher der SPD, Sascha Binder, warf Hinz daraufhin respektlosen Umgang mit dem SEK vor. „Gerade bei den Polizisten, die mehr als alle andere täglich ihr Leben aufs Spiel setzen. Das sind die, nach denen keiner mehr kommt.“