Die Verunsicherung rund um das Thema Grundschulempfehlung und G 9 ist nach wie vor groß. Wir haben bei Vertretern von Stadt, Land und Schulen nachgefragt: Worauf müssen sich Eltern, Schüler und Lehrkräfte nun einstellen?

Familie/Bildung/Soziales: Mathias Bury (ury)

Wie schwierig die Umsetzung des neuen G9 an den Gymnasien im Land werden wird, hat bereits die Misere um den Kompass-4-Test zur neuen Grundschulempfehlung gezeigt. Die Verunsicherung bei Eltern wie Lehrkräften ist nach wie vor groß. Das wurde auch bei der Podiumsdiskussion „Mittendrin“ unserer Redaktion mit Vertretern von Land, Stadt, Schulen und der Elternschaft deutlich. Die drängende Frage bleibt: Wie geht es jetzt weiter?

 

Was tut das Land nach dem missglückten Kompass-4-Test?

Angesprochen auf den neuen Test, der neben dem Elternwillen und dem Lehrervotum das dritte Element der neuen Grundschulempfehlung ist, redete Daniel Hager-Mann (Grüne), Amtschef von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne), nicht drumherum: Wenn im Ergebnis nur sechs Prozent der Schüler in Mathematik Gymnasialniveau erreichten in dem Test – sonst bekämen mancherorts 50 Prozent oder sogar 70 Prozent eine Gymnasialempfehlung –, dann müsse was „schiefgelaufen“ sein. Schon die Ministerin hatte ihr Bedauern ausgedrückt. Das Testergebnis werde den Schülern aber „nicht zum Negativen ausgelegt“, versicherte Hager-Mann. Für die kommende Grundschulempfehlung spiele er „keine Rolle“. Der Amtschef hob hier das „Votum der Lehrkräfte“ als entscheidend hervor, „unbeeinflusst von Kompass 4“.

Wie reagiert die Elternvertretung?

Der Protest von Eltern angesichts der schlechten Testergebnisse war bekanntlich groß. Zumindest bei Simon Bock, dem Vorsitzenden des Stuttgarter Gesamtelternbeirats, ist davon nicht viel angekommen. In Gesprächen hätten sich manche Eltern ihm gegenüber mit Blick auf die entscheidenden Lehrervoten sogar „zuversichtlich“ gezeigt, erklärte Bock auf dem Podium. Diese hätten den Test eher für unnötig gehalten. Dennoch sieht der Elternbeiratsvorsitzende den Test kritisch. Denn es habe vermutlich Eltern gegeben, die mit ihren Kindern auf den Test gelernt hätten und sehr „gestresst“ worden seien. „Bestenfalls hat der Test nicht viel gebracht“, sagte Simon Bock. „Wenn, dann hat er geschadet.“

Für und Wider Schulreform: v.l. Lisa Welzhofer, Gerhard Menrad, Simon Bock, Daniel Hager-Mann, Isabel Fezer, Manfred Birk, und Alexandra Kratz Foto: Lichtgut//Leif Piechowski

Wie geht es weiter mit dem Kompass-4-Test?

Daniel Hager-Mann aber stellte klar: Den Kompass-4-Test als eine Grundlage der Grundschulempfehlung werde es weiter geben. Wobei der Amtschef im Kultusministerium eine Überarbeitung andeutete, indem er einräumte: „Das Problem der Zielgenauigkeit ist nicht trivial.“ Der Kompass-4-Test soll künftig sozusagen der Abschluss sein von durchgehenden Lernstandserhebungen in allen Stufen der Grundschule von der ersten Klasse an. Auch in Klasse zwei soll es künftig eine solche Erhebung geben, für die dritte Klasse gibt es bereits den Test VERA 3. Nach den jeweiligen Ergebnissen soll mit den Eltern geklärt werden: „Wo steht das Kind? Wo kann eine Förderung anschließen?“, sagte Daniel Hager-Mann.

Wie wird der Potenzialtest gestaltet?

Der nächste Schritt nach den erfolgten Grundschulempfehlungen wird der sogenannte Potenzialtest sein für Kinder, deren Eltern trotz fehlender Empfehlung ihr Kind doch aufs Gymnasium schicken wollen. Laut einer Schätzung könnten etwa zehn bis zwölf Kinder pro Gymnasium daran teilnehmen. Daniel Hager-Mann nannte selbst keine Zahl, hält den Wert aber für realistisch. Die Schätzung beruht offenbar darauf, dass 90 Prozent der Kinder, die aufs Gymnasium wechseln, auch eine entsprechende Empfehlung haben, neun Prozent eine für die Realschule, nur ein Prozent aber für die Hauptschule. Der Test findet jedenfalls am 18. Februar statt, er dauere etwa 20 Minuten, der Nachschreibetermin ist eine Woche später. Der Test habe drei Elemente: Es werde Mathematik und Deutsch geprüft, in einem „überfachlichen Teil wird logisches Denken“ abgefragt mit Blick darauf, „ob das Kind die Inhalte auf gymnasialem Niveau verstehen kann“. Der Amtsleiter geht nicht davon aus, dass die überwiegende Zahl der teilnehmenden Kinder den Test bestehen wird.

Wie beurteilt die Stadt Stuttgart die Reform?

Die Stadt ist in der schwierigen Lage, dass sie durch das neue G9-Gymnasium rechnerisch 75 Klassenräume mehr braucht. „Das wird nicht gehen“, sagte Bildungsbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP). Deshalb müsse man jeden Standort anschauen und versuchen, Kooperationen von Schulen zu erreichen. Auch wenn Fezer die Schulen und ebenso das Land sehr lobte, die derzeit Enormes leisteten, ist sie überhaupt nicht angetan von der Reform. Wenn das Land durch den Erfolg der Bürgerinitiative für G9 und durch das Votum des einberufenen Bürgerrates „schon gezwungen wird, G9 zu machen – der Druck war ungeheuer groß“, dann hätte sich Fezer wenigstens gewünscht, „dass endlich Schluss ist mit halben Sachen“. Sie hätte sich ein zweigliedriges System gewünscht mit Gymnasium und Gemeinschaftsschule, und eine entsprechend „gleich starke attraktive Ausstattung“ der letzteren. Nun aber bekomme man „ein System, das noch komplizierter ist als das vorherige“. Großer Applaus im Auditorium.

Wie sehen die Gymnasien den Stand der Schulreform?

Die Gymnasien hätten im laufenden Prozess „bestimmte Entscheidungen gerne schon früher gehabt“, erklärte Manfred Birk, Geschäftsführender Schulleiter für die Stuttgarter Gymnasien und Rektor des Dillmann-Gymnasiums. Dass die künftige Stundentafel fürs Gymnasium nochmals geändert wurde und womöglich ein weiteres Mal korrigiert werde, sei „eine ungewöhnliche Situation“. Denn Informationsveranstaltungen mit Eltern liefen bereits, diese wollten Antworten, als Schule müsse man deshalb „Entscheidungen unter Vorbehalt treffen“. Dass die Grundschulempfehlung künftig wieder verbindlicher wird, hielten die Gymnasien aber für sinnvoll.

Wie reagieren die anderen Schularten?

Anders als die Gymnasien sei man im Bereich der Sekundarstufe I „nicht gestresst“ derzeit wegen der Reform, sagte Gerhard Menrad, Rektor der Anne-Frank-Gemeinschaftsschule und Geschäftsführender Schulleiter für Werkrealschulen, Realschulen sowie Gemeinschaftsschulen in Stuttgart. Manches an der Reform finde er gut, etwa dass es mehr Coachingstunden für die Gemeinschaftsschulen gebe. Gerhard Menrads Kritik setzt, ähnlich wie bei Bürgermeisterin Fezer, grundsätzlicher an: „Die Reform zielt wieder am Problem vorbei, die Schwerpunkte sind falsch gesetzt.“ Und er fügte hinzu: „Das jetzige System wird den Anforderungen nicht mehr gerecht.“ Jetzt werde wieder übers Gymnasium diskutiert, dabei würden in der Sekundarstufe I „die meisten Geflüchteten“ beschult und integriert. Und dies bei einem „eklatanten Fachkräftemangel“. In diesen Schulformen vor allem werde auch die Inklusion geleistet, „obwohl wir keine Sonderpädagogen mehr kriegen“, betonte Menrad. Dafür bekam er viel Applaus aus dem Auditorium.

Welche Zukunft hat noch die Werkrealschule?

Dass die ohnehin geschwächte Werkrealschule, wo man künftig nur noch einen Hauptschulabschluss machen kann, weiter an Bedeutung verlieren wird, kritisierte Simon Bock. Die Werkrealschule in dieser Geschwindigkeit praktisch abzuschaffen, „finde ich problematisch“, erklärte Bock. Man habe diesen „den Teppich unter den Füßen weggezogen“. Dabei leisteten Werkrealschulen viel für die Inklusion. Schulleiter Gerhard Menrad erklärte dazu: Angesichts der „Problemfülle“ der Kinder dort frage er sich manchmal, ob es sich dabei noch um eine Regelschule oder um ein Sonderpädagogisches Bildungszentrum handle.

Was wird aus der frühkindlichen Bildung?

Auch einige Zuhörer war nicht einverstanden mit der Fokussierung aufs Gymnasium. „Wir brauchen mehr frühkindliche Bildung, dafür geben wir zu wenig Geld aus“, sagte ein Besucher. Dem widersprach Daniel Hager-Mann vom Kultusministerium. Mehr als 100 Millionen Euro werde man jährlich dafür ausgeben, vor allem für die „Sprachkompetenz vor dem Schuleintritt“, so Hager-Mann. So habe ein Drittel der Kinder „erhebliche Sprachdefizite“. Hier werde man eine verbindliche Sprachförderung von vier Wochenstunden vor der Schule einführen, es würden Juniorklassen zur Förderung in Deutsch und Mathematik eingeführt, in der Kita werde man die Sprachförderung stärken.