„Hotel Savoy“ im Schauspielhaus Zwischen Freude und abgrundtiefem Schmerz
Im Schauspielhaus Stuttgart hat das Musikensemble Franui aus Joseph Roths Roman „Hotel Savoy“ eine turbulente „Hybridoperette“ über das Lebensgefühl der 1920er Jahre gemacht.
Im Schauspielhaus Stuttgart hat das Musikensemble Franui aus Joseph Roths Roman „Hotel Savoy“ eine turbulente „Hybridoperette“ über das Lebensgefühl der 1920er Jahre gemacht.
Die Bühne ist kahl: eine runde, nach hinten ansteigende Spielfläche. Fünf Stühle stehen da, sonst nichts. Die Plätze der Musiker links vorne sind noch leer. Als ein Mann die Bühne im Schauspielhaus Stuttgart betritt, klingt von fern ein Volkslied in den Saal. Der Mann sagt, was er sieht, was er tut. Und wer er ist. „Ich sehe den Soldaten, den Mörder, den fast Gemordeten, den Auferstandenen, den Gefesselten, den Wanderer“: So beschreibt sich der Erzähler in Joseph Roths Roman „Hotel Savoy“ selbst, und so beschreibt sich am Samstagabend auch der Schauspieler Marco Massafra.
Er ist Gabriel Dan, der Protagonist der 1924 erschienenen Geschichte eines Heimatlosen über eine Gesellschaft der Heimatlosen, traumatisiert und zersplittert durch den Ersten Weltkrieg.
Der Journalist und Schriftsteller Joseph Roth, ein Jude aus Galizien, also aus der heutigen Ukraine, wurde nur 44 Jahre alt, blieb bis zu seinem Tod 1939 ein Entwurzelter, und auch der Kriegsheimkehrer Gabriel Dan in seinem Buch kehrt nicht heim, sondern lässt sich nieder an einem Ort des Übergangs. „Ich stehe allein“, sagt Dan im Roman. „Mein Herz schlägt nur für mich. Ich habe keine Gemeinschaft mit einer Menge und nicht mit Einzelnen. Ich bin ein kalter Mensch.“ So sieht und so spielt Massafra die Romanfigur: als Mann ohne Eigenschaften. Anfangs mag man bei ihm Aura vermissen, Präsenz. Bis man erkennt, dass es genau darum hier geht. Gabriel Dan ist ein berichtender Katalysator, durch sein Erzählen gehen die Bilder der Zeit hindurch. Heraus kommen Gedanken und Bilder von ungefilterter Schrecklichkeit.
Das hat eine Gruppe von Tiroler Musikerinnen und Musikern gereizt, die seit ihrer Gründung 1993 auf sehr kreative Weise das weite Feld zwischen klassischer und Volksmusik beackern. Franui sind Wurzel-Fetischisten. Sie haben Ländler, Polka, Trauermarsch und Walzer aus Werken von Schubert und Mahler herausgemeißelt – erhellende Ereignisse, die uns immer auch ein bisschen erheitert haben. Jetzt haben Franui Joseph Roths Roman für sich entdeckt. Und sich gleichzeitig nach dem Wurzeln jener Operette gefragt, die von den deutschen Nationalsozialisten gerne als „silberne“ bezeichnet wurde – eine Diffamierung, die sich gegen die meist jüdischen Operetten-Komponisten zwischen 1900 und 1940 richtete.
Wenn jetzt in „Hotel Savoy oder Ich hol‘ dir vom Himmel das Blau“ Nummern aus Stücken von Leo Fall, Franz Lehár, Emmerich Kálmán, Oscar Straus, oder Paul Abraham mit Joseph Roths Roman zu einer „Hybridoperette“ verschmelzen, dann geht es auch um den (traumabedingten) Verlust des Gefühls-Kompasses. Was ist Traum, was Wirklichkeit? Was im Erzählen des Helden ist objektiv, was subjektives Erleben? In der Sprache des Romans wechseln ständig Präsens und Präteritum. Im Musiktheater von Franui werden dessen Figuren zu Dialogpartnern mit eigener Kontur: Da ist der Profiteur Böhlaug, dort sind der Exilant Bloomfield, auf den man wartet wie auf Godot, der als Liftboy verkleidete Hotelbesitzer, der Revolutionär, der gescheiterte Clown.
Sie alle wirbeln jetzt in „Hotel Savoy“ um- und durcheinander. Das ist sehr unterhaltsam, oft lustig. Den Kollateralschaden dabei, dass nämlich feine Romanpassagen zwischen den Musiknummern gelegentlich zu banalen Zwischendialogen verkommen, nimmt man dafür in Kauf. Ebenso kleinere Wackler bei der Koordination. Problematisch wird‘s aber dort, wo Corinna von Rads Inszenierung in die parodistische Überzeichnung kippt. Dann chargieren die Darsteller gerne, kobolzen kirchernd vor sich hin. Roths Roman aber ist keine Satire; seine Figuren mögen Typen sein, aber sie taugen nicht zum Slapstick. „Jeden“, schreibt Roth, „hielt ein Unglück fest“; das ist todernst gemeint.
Die Arrangements der Operettennummern für das bläserbetonte Ensemble nehmen dies auf, sie haben meist einen dunklen Trauerrand. Die tollen Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne, die meist in Doppelrollen agieren – Klaus Rodewald, Josephine Köhler, Boris Burgstaller, Gábor Biedermann, dazu Inga Krischke als grandiose Einspringerin –, dazu der Tenor Moritz Kallenberg und die Sopranistin Josefin Feiler von der koproduzierenden Staatsoper: Sie alle machen den Abend singend, tanzend, sprechend, spielend zu einem quirligen Theaterereignis, das Franui fantasievoll mit Musik garnieren. Bis hin zu jener Parodie des Hits „Da geh‘ ich ins Maxim“ aus Hitlers Lieblingsoperette „Die lustige Witwe“, den Schostakowitsch in seiner 7. Sinfonie zu Tode variiert. Den unbarmherzigen Rhythmus dazu hämmert Klaus Rodenwald auf den Bühnenboden. Spätestens hier ist die „Hybridoperette“ dort angekommen, wo sie zu Hause, stark und ganz bei Joseph Roth ist: in der Mitte zwischen Freude und abgrundtiefem Schmerz. Schade, dass der Inszenierung nicht auch schon früher das Lachen im Halse steckenblieb.
Roman Joseph Roth wurde vor allem mit seinem Roman „Radetzkymarsch“ als Schriftsteller bekannt. „Hotel Savoy“ thematisiert die sozialen Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg. Es erschien 1924 zunächst als Fortsetzungsroman in der Frankfurter Zeitung. Viel diskutiert wurde die Bühnenfassung des Regisseurs Antú Romero Nunes, die 2015 unter dem Titel „Hotel Europa oder Der Antichrist, ein Projekt frei nach Joseph Roth“ im Wiener Akademietheater uraufgeführt wurde. Inspiriert wurde Roth wohl vom Hotel Savoy im polnischen Lodz.
Vorstellungen „Hotel Savoy oder Ich hol‘ dir vom Himmel das Blau“ ist nochmals vom 1.– 3. und 9. – 11. Juli am Schauspielhaus Stuttgart zu erleben. Karten gibt es unter 07 11 / 20 20 90 und unter www.staatsoper-stuttgart.de oder www.schauspiel-stuttgart.de. (ben)