Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf durchforstet das Archiv von Pius XII. Dabei stößt er auf Tausende Schreiben, in denen jüdische Menschen den Papst um Hilfe gebeten haben. Ein Brief der Stuttgarterin Elisabeth Einstein beeindruckt ihn nachhaltig.
Es geht um 209 US-Dollar. Geld, das Leben retten soll. Der Brief, der rund 80 Jahre nachdem er geschrieben wurde, einem Forscher in die Hand fällt, hatte seinen Weg von Stuttgart nach Rom gefunden. Adressiert an niemand geringeren als an Papst Pius XII. Eine jüdische Frau, gerade einmal 40 Jahre alt, wendet sich darin hilfesuchend an das Oberhaupt der katholischen Kirche. „Du liest und merkst: Das ist nicht nur ein Blatt Papier, das ist das Zeugnis von einem Menschen in allerhöchster Not“, sagt der Kirchenhistoriker Hubert Wolf. Vier Jahre nach diesem ersten Fund, der Tausende weitere Bittschreiben, die jüdische Menschen während des Zweiten Weltkrieges an den Vatikan schickten, zu Tage fördern sollte.
Mit einem Team von Forschern hat Wolf die vergangenen vier Jahre in den Vatikanischen Archiven die Dokumente aus der Zeit des Pontifikats Pius’ XII. durchforstet. Papst Franziskus hatte diese im März 2020 der Wissenschaft und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Vatikan werden Unterlagen nicht wie in anderen Staaten nach einer bestimmten Verjährungsfrist freigegeben, sondern geballt nach Amtszeiten der Päpste.
Hubert Wolf kennt das Archiv in Rom, ein Labyrinth aus Regalen und Akten, wohl wie kein Zweiter. Seit fast 40 Jahren forscht er dort. Zehn Jahre lang hatte sich Wolf auf den Moment vorbereitet, in dem er vor den Regalen mit den rund 400 000 Schachteln stehen würde, in denen die geschätzt zwei Millionen Blatt Unterlagen aus dem fast 20-jährigen Pontifikat von Pius XII. verwahrt werden. Von dem Bittschreiben der Elisabeth Einstein aus Stuttgart ahnte Wolf nichts. Es hat vieles auf den Kopf gestellt.
Kannte der Papst die Fluchtrouten?
„Unser Fokus lag ganz woanders“, sagt Wolf über den Beginn der aktuellen Forschungsphase. Viele seien ohnehin der Meinung gewesen, mit der Öffnung der Archive von Pius XII. könnte nichts Neues an die Öffentlichkeit gelangen – über das Pontifikat, das von 1939 bis 1958 dauerte, sei bereits alles bekannt. Wolf und sein Team wollten sich auf die vergleichsweise wenig erforschte Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrieren, vor allem auf die sogenannte Rattenlinie, die Fluchtrouten führender Vertreter des NS-Regimes und anderer Verbrecher. Auch da stelle sich die Frage, wie auch beim Holocaust, wie viel der Papst davon wusste.
Im Rahmen der Recherche hält Wolf dann aber dieses Blatt Papier in den Händen, das einst in der Rosenbergstraße 162 im Stuttgarter Westen auf einer Schreibmaschine verfasst wurde. In klaren, nüchternen Worten erklärt Elisabeth Einstein darin die aktuelle Situation ihrer Familie, wie sie sich im Mai 1940 darstellt:
„Ich wurde im Jahre 1899 als Tochter von Herrn Geheimrat Prof. Dr. Gerstmann in Stuttgart geboren, und verheiratete mich 1922 mit Herrn Leo Einstein, hier. Wir haben drei Kinder im Alter von 17, 16 und 12 Jahren“, schreibt sie dem Heiligen Vater. Ihr Mann habe im Ersten Weltkrieg als Frontsoldat gedient und bis 1938 ein eigenes Geschäft geführt, „das uns gut ernährte“. Die „allgemeinen Verhältnisse“ zwangen ihn, dieses zu liquidieren, schreibt Elisabeth Einstein. Seitdem plane die Familie die Auswanderung in die USA. Dafür bittet die Frau den Papst um finanzielle Hilfe: 209 US-Dollar für ihr Ticket, das sie mit dem Schiff in Sicherheit bringen soll.
„Dieses Dokument war so eindrücklich und hat das Forschungsvorhaben von meinem Team und mir – wir waren mit sieben Leuten in Rom – über den Haufen geworfen“, sagt Wolf heute, vier Jahre nach dem Fund. Niemand wollte sich in diesem Moment mehr mit der Rattenlinie beschäftigen, „wenn wir die Möglichkeit haben, womöglich Tausenden jüdischen Menschen, deren Andenken die Nazis vernichten wollten, wieder eine Stimme zu geben“. Und die Forscher wurden weiter fündig: Bis heute sind rund 10 000 Schreiben in den Akten aufgetaucht, in denen sich jüdische Menschen hilfesuchend an den Papst wenden.
Eine bescheidene Bitte
Was nicht in dem Brief von Elisabeth Einstein steht: Bis zur Aufgabe ihres Geschäfts waren die Einsteins eine gesellschaftlich anerkannte und gut situierte Familie mit Hausangestellten. Regelmäßig fanden in dem Haus in der Hölderlinstraße große festliche Empfänge statt. Dort, wo sie lebten, bevor sie in die kleine für Juden vorgesehene Wohnung in der Rosenbergstraße umquartiert wurden. „Dass sie den Heiligen Vater nun um 209 Dollar bitten musste, fiel Elisabeth Einstein offenkundig schwer“, konstatiert Wolf.
Eine bescheidene Bitte, war die geplante Auswanderung in die USA doch mit erheblich mehr Kosten verbunden. Die amerikanischen Behörden verlangten bis zu 10 000 US-Dollar als Sicherheit. Und auch die Reise für die fünfköpfige Familie würde zu Buche schlagen. Doch Elisabeth Einstein bittet im Vatikan nur um die Übernahme ihrer eigenen Reisekosten. Eine Erklärung: Sie ist das einzige katholisch getaufte Mitglied der jüdischen Familie.
Eine Tatsache, die bislang völlig unbekannt war. „In den einschlägigen zeitgenössischen Quellen und den bisherigen historischen beziehungsweise erinnerungsgeschichtlichen Rekonstruktionen des Schicksals der Familie Einstein ist davon nie die Rede“, sagt Wolf. Doch in ihrem Brief schreibt Elisabeth Einstein an den Papst: „Mein Mann und meine drei Kinder sind Juden, und ich, da ich niemals einer Religion angehörte, nahm 1935 kath. Religions-Unterricht, und empfing 1936 zu St. Nikolaus in Stuttgart das Sakrament der Taufe.“
Etwa 1000 Briefe liest Pius XII. selbst
Worte, die den Papst nie persönlich erreichen werden. Ein Fakt, der die Forscher um Wolf vor neue Aufgaben stellt: Die Frage lautet nicht mehr nur, ob der Papst persönlich zum Holocaust geschwiegen hat. Sie lautet: Wie strukturell hat die Kirche den Holocaust verschwiegen? „Mit dem Archiv Pius’ XII. ist es nun auch eine Chance, genau diese innervatikanischen Entscheidungsfindungen zu rekonstruieren“, sagt Wolf. Welche Bittschreiben werden dem Papst vorgelegt und welche nicht? „Wenn ein Mitarbeiter auf einem Schreiben notiert: „N. d. f.“, also „niente da fare“ (deutsch: Nichts zu machen), dann ist der ganze Fall mit diesen drei Buchstaben zu Ende.“ Wolf schätzt, dass Pius XII. nur 1000 Bittschreiben persönlich gesehen hat. Das heißt in der Umkehr, dass 90 Prozent der Fälle von Ebenen weiter unten entschieden wurden.
Wie die Causa Einstein, wie nach jahrelanger Recherchearbeit feststeht. Ein Mitarbeiter, Monsignore Angelo Dell’Acqua, empfiehlt, der Bitte Elisabeth Einsteins stattzugeben und das Geld zu bewilligen. Ein bürokratisches Hin und Her entsteht. Obwohl in den Unterlagen immer wieder die Dringlichkeit vermerkt wird, ist die schriftliche Bestätigung, dass das Geld für die Passage Elisabeth Einsteins bei der Schifffahrtsgesellschaft vorliege, auf den 26. April 1941 datiert – fast ein Jahr später als die Bittschrift der Stuttgarterin. Zu spät.
Das Geld wird nie abgerufen. Elisabeth Einstein trat die Reise in die USA nie an. Die Familie war in die Fänge der Nazis geraten. Leo, Elisabeth und Ingeborg Einstein wurden letztendlich am 26. April 1942 nach Izbica in Polen deportiert. Seitdem sind sie verschollen. Der Sohn Fritz soll schon zuvor getötet worden sein. Als einziger überlebte dessen Bruder Kurt Werner die Schreckensherrschaft. Dreieinhalb Jahre verbrachte auch er in einem KZ, 1945 kehrte er zurück nach Stuttgart. Kurt Werner starb 1990 in den USA, wohin er 1947 ausgewandert war. Auf einem Stuttgarter Gehweg erinnert heute ein Stolperstein an die Familie Einstein.
Forschungsprojekt zu Bittbriefen jüdischer Menschen an den Papst
Briefe
Fast 10 000 Bittschreiben jüdischer Menschen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges haben der Kirchenhistoriker Hubert Wolf und sein Forscherteam seit der Öffnung der Archive des Pontifikats Pius’ XII. vor vier Jahren entdeckt. In umfangreicher Recherchearbeit weit über das Vatikanische Archiv hinaus versuchen die Wissenschaftler nun, die Schicksale der einzelnen Personen nachzuvollziehen.
Buch
Über die Forschung im Vatikanischen Archiv ist in dieser Woche Hubert Wolfs Buch „Die geheimen Archive des Vatikan – und was sie über die Kirche verraten“ im Verlag C.H. Beck erschienen. Das Buch hat 240 Seiten und kostet 26 Euro.
Online
In dem Projekt „Asking the Pope for Help“ der Uni Münster werden die Bittschreiben online dokumentiert. Hier findet sich auch der Brief von Elisabeth Einstein aus Stuttgart: www.uni-muenster.de/FB2/aph/bittschreiben