Jugendliche zeigen Zivilcourage Sturz von Rolltreppe: Nach dem VfB-Sieg geht es um ein Menschenleben

Ole Herfert (links) und Tim Baiter haben als Ersthelfer eingegriffen, als andere weggeschaut haben. Foto: Stefanie Schlecht

Nach dem Pokalsieg des VfB Stuttgart ereignet sich am Hauptbahnhof ein schrecklicher Unfall auf einer Rolltreppe. Zwei 15 und 16 Jahre alte Jugendliche helfen, ohne zu zögern.

Kriminalität, Sicherheit und Justiz: Jürgen Bock (jbo)

Es ist eine Horrorvorstellung. Bestens gelaunt verlassen Ole Herfert und Tim Baiter am 24. Mai den Stuttgarter Schlossplatz, wo sie sich die Übertragung des Pokalfinales aus Berlin gemeinsam mit 35 000 anderen angeschaut haben. Direkt nach Abpfiff und dem Sieg des VfB Stuttgart eilen sie in Richtung Hauptbahnhof, um die S-Bahn nach Hause zu erwischen. Sie wählen einen Zugang, an dem sich nicht die Menschenmassen stauen – da bietet sich ihnen ein furchtbarer Anblick. Ein junger Mann liegt im Treppenabgang auf dem Boden.

 

„Wir sind um die Ecke gebogen und haben sofort das ganze Blut gesehen“, erinnert sich der 16-jährige Ole. Sie wissen nicht, was passiert ist, doch dass da jemand in größter Not ist, scheint klar. Was tun? Beide haben noch nie irgendwelche praktischen Erfahrungen in Erster Hilfe gemacht, allerdings drei Wochen vorher gemeinsam einen entsprechenden Kurs absolviert. Ole braucht ihn, um seinen Führerschein machen zu können, sein 15 Jahre alter Freund und Klassenkamerad hat ihn begleitet.

Verunglückter ist nicht ansprechbar

„Wegrennen war keine Option. Man muss sich nur mal vorstellen, wenn das andere machen würden, wenn man selbst da läge“, sagt Tim. Also tun die beiden, was sie gelernt haben. Sie gehen zu dem jungen Mann hin, prüfen, ob er ansprechbar ist. Er reagiert nicht, atmet aber. Sein Gesicht hat eine große Platzwunde, die Nase ist schwer in Mitleidenschaft gezogen. „Sein Kopf hat nach unten gelegen, deshalb haben wir ihn in die stabile Seitenlage gebracht und einen Notruf abgesetzt“, erzählt Ole. Zwei junge Mädchen in einem ähnlichen Alter wie sie selbst seien dazugekommen und hätten den Schwerstverletzten mit einem T-Shirt oder einem Handtuch vor den Blicken anderer Passanten abgeschirmt.

Wenige Minuten später trifft die Bundespolizei ein. Auch den Rettungswagen, der sich der Unfallstelle nähert, weisen die Jugendlichen ein. Zwischen dem Auffinden und der Versorgung durch die Rettungskräfte seien wohl nur sechs, sieben Minuten vergangen, schätzen die beiden Zehntklässler des Otto-Hahn-Gymnasiums in Böblingen. „Das kam einem aber vor wie eine halbe Stunde“, sagt Tim. Und Ole ergänzt: „An den Verlauf an der Treppe kann ich mich komplett erinnern, aber an den Heimweg danach kaum noch. Das war schon eine Ausnahmesituation.“

Der Siegesfeier auf dem Schlossplatz folgte für einen 21-Jährigen ein böser Unfall. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Einige Tage später sitzen die beiden zu Hause in Ehningen (Landkreis Böblingen). Was an jenem Abend vor ihrem Einsatz als Ersthelfer passiert ist, wissen sie auch nur von der Bundespolizei, berichten sie. Die hat Kameraaufzeichnungen gesichtet. Darauf ist wohl zu sehen, wie der Verunglückte, ein 21-Jähriger, sich am Treppenabgang der Kronenpassage auf den Handlauf der fahrenden Rolltreppe setzt und das Gleichgewicht verliert. Der junge Mann fällt rückwärts und offenkundig ohne Fremdeinwirkung etwa drei Meter in die Tiefe. Nach seinem Aufprall stürzt er zusätzlich die restlichen Treppenstufen hinunter und bleibt bewusstlos liegen.

Wie es dem 21-Jährigen geht, beschäftigt die beiden couragierten Jugendlichen, sie wollen das aber nicht zu sehr an sich heranlassen. Laut Bundespolizei hat er schwerste Kopfverletzungen erlitten und ist nach dem Unfall ins künstliche Koma versetzt worden, hat aber nicht mehr in Lebensgefahr geschwebt. Wie die Lage aktuell ist, wissen weder die Polizei noch die Helfer. „Vielleicht will ich auch gar nicht genau wissen, wie es da weitergeht. Ich sage mir, wir haben richtig gehandelt und hoffe einfach, dass es ihm bald wieder besser geht“, sagt Tim.

Zwei Tage nach ihrem Einsatz hat die Bundespolizei bei ihnen angerufen und sich bedankt. „Wir hatten gar nicht damit gerechnet, dass sich da noch jemand meldet“, sagt Ole. Von den Einsatzkräften gibt es ein dickes Lob: „Das schnelle und vorbildliche Handeln der beiden Jugendlichen verdient unseren höchsten Respekt. Sie haben in einer Notsituation genau das Richtige getan: Erste Hilfe geleistet, den Notruf abgesetzt und bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes an der Seite des Verletzten ausgeharrt“, sagt Janna Küntzle, Sprecherin der Bundespolizeiinspektion Stuttgart. Man bedanke sich sehr „für dieses couragierte und mitmenschliche Verhalten“.

Andere haben nicht geholfen

Erfahren haben die beiden Fußballer und VfB-Mitglieder dabei auch, dass vor ihnen offenbar mehrere Menschen an dem Verunglückten vorbeigegangen sind, ohne ihm zu helfen. Für die beiden Jugendlichen undenkbar – und doch sind sie über eine Sache froh: „Zum Glück mussten wir keine Wiederbelebung machen“, sagt Tim. Doch wer weiß: Vermutlich hätten sie sich auch dieser Herausforderung gestellt.

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