Ein Kleinod der Eisenbahngeschichte stellt die Weichen für die Zukunft: Das Stellwerk im Stuttgarter Westen, das Kurt Weidemann bis zu seinem Tod 2011 als Atelier nutzte, ist neu verpachtet. Ein Besuch an einem Ort, der Denkmalschutz mit Hightech vereint.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Am liebsten trug er rote Schuhe, einen Schlapphut und einen etruskischen Trompetenring im Ohr: Kurt Weidemann, der die Geschichte der Typografie geprägt hat und 2011 im Alter von 88 Jahren gestorben ist, sah alles andere als alltäglich aus – dies galt ebenso für sein Atelier.

 

Für 45 000 D-Mark, so weiß man inzwischen, kaufte der Designer das ausrangierte Stellwerkhäuschen im Stuttgarter Westen von der Bahn, das er im Jahr 2000 zu seiner Ideenwerkstatt mit eingebauter Bierzapfanlage gemacht hat. Überliefert ist, dass er vor sich selbst warnte, wenn ihn dort Gäste besuchten. Ein Satz wird bis heute gern zitiert: „Ich sage Sachen auf die Gefahr hin, dass sie so verstanden werden, wie sie gemeint sind.“

Für Daimler, Porsche, die Deutsche Bahn und viele andere hat der 1922 in Ostpreußen geborene Weidemann Logos und Schriftzüge oft auf überraschend einfache Art entworfen. Das Stellwerk mit der Aufschrift „Stuttgart West“ war fünf Jahre jünger als er – es ist 1927 gebaut worden. Als 1985 der Westbahnhof für den Personenverkehr stillgelegt und 1993 abgerissen wurde, blieb nur das denkmalgeschützte Häuschen erhalten.

Was einst als schmaler Solitär (dreieinhalb Meter breit, elf Meter lang) zwischen den Gleisen emporragte, fällt heute erst auf dem zweiten Blick auf – die Neubebauung ist immer näher herangerückt.

Die neue Pächterin stammt aus der Hotelbranche

Wer das Kleinod der Eisenbahngeschichte betritt, kommt in einer eigenen Welt an. Denkmalschutz und Hightech erzeugen eine besondere Spannung. Kerstin Kübler, die das Kulturdenkmal nun gepachtet hat, genießt den Charme im ungewöhnlichen Ambiente. Man fühlt sich frei an einem Ort, an dem Historie in jeder Holzfaser steckt, der gleichzeitig mit Beamern und Designmöbeln für die Zukunft ausgestattet ist. Außen ahnt man nicht, wie hochmodern es drinnen ist.

Aus der Hotelbranche stammt die neue Pächterin, hat im Marketing gearbeitet: Jetzt bietet sie das coole Häuschen unter dem neuen Namen Stellwerkerei für„executive meetings, Teamevents“ an, wie es auf der Homepage heißt, aber auch für Firmenfeiern, Geburtstage oder Hochzeiten. Maximal 50 Personen haben auf drei Ebenen Platz.

Die neue Pächterin Kerstin Kübler Foto: Lichtgut

Die Holzdielen sind fast 100 Jahre alt, wurden abgeschliffen und wirken wie neu. Das Licht flutet zwischen dem Gebälk von allen Seiten. Im Dach gibt’s einen Ausguck. Selbst das Zwischendeck ist transparent, man geht über eine Glasfläche.

Einst wurden mit Muskelkraft die Drahtseile gezogen, um die Weichen zu stellen. Kurt Weidemann ersetzte die Seile durch Bücher, ließ eine neue Ebene einbauen. Zeitlebens hat er voller Leidenschaft bewiesen, dass Intellekt und Ironie keine Gegner sind. Der Mann mit dem Hut zählte zu den eigenwilligsten Köpfen der Stadt, er war quasi der Rudelführer der bunten Hunde.

Das Bier strömte im Stellwerk wie aus einer Zauberquelle

Aus seiner Zapfanlage im Stellwerk West strömte unermüdlich Bier wie aus einer Zauberquelle. Das gekühlte Fass befand sich im Erdgeschoss, gelangte über eine Leitung nach oben in die Denkerstube, in der Weidemann seine Gäste an einem langen Tisch empfing. Wer kam, durfte zum Bier gleich noch einen Schnaps runterkippen. Das Herrengedeck war bei ihm Pflicht. Die Leitungen sind inzwischen entfernt, das Ende der Zapfanlage, ein Stahlbecken im oberen Stockwerk, kann heute noch besichtigt werden.

Kurt Weidemann in seinem Atelier im früheren Stellwerk im Stuttgarter Westen /Kraufmann/Thomas Hörner

In diesem Eisenbahnerparadies tüftelte der große Gestalter, eine Ikone des Designs, schlief schon mal auf seinem „Notbett“, das ins Eck geklemmt war. „Wohnen darf hier heute niemand“, sagt Pächterin Kerstin Kübler, „man darf auch hier nicht schlafen.“ Auch das Hochzeitspaar darf seine Hochzeitsnacht nicht hier verbringen, sobald die Party rum ist, für die es auch einen schönen Außenbereich gibt. Und wo man den Hochzeitswalzer tanzen kann? „Stühle und Tisch werden beiseitegeschoben“, erklärt die Vermieterin (ein Tag im Stellwerk kostet übrigens knapp 1000 Euro).

Nach dem Tod von Kurt Weidemann im Jahr 2011 ging das Häuschen an seine Kinder über. Die Erben räumten aus und verkauften das Stellwerk schließlich an einen Bahn-Enthusiasten, der nicht genannt werden möchte. Dann zogen die Gin-Verkäufer Alexander Stein und Christoph Keller von Monkey 47 ein, ehe die Gastronomin Carmen Ehlers Pächterin wurde. Inzwischen ist sie ausgezogen, um sich auf andere Party- und Firmenlocations zu konzentrieren. Sie hat den Stab an Kerstin Kübler weitergereicht.

Heute rauscht die Gäubahn etwa zweimal pro Stunde vorbei. 1879 war die Strecke von Freudenstadt nach Stuttgart von der Königlich Württembergischen Staatseisenbahn eröffnet worden. Damals hieß die Station unterhalb des Birkenkopfs noch Hasenberg. Lag der Bahnhof zunächst weit außerhalb der Stadt, so wuchs die Bebauung auf dem Hügel im Westen hinauf. Das Ende des Westbahnhofs kam mit der S-Bahn, die 1985 bis Vaihingen und Böblingen verlängert wurde. 1993 wurde auch der Güterverkehr eingestellt. Als der Westbahnhof abgerissen war, entstand das Areal mit Bürogebäuden, Geschäften und einer Tankstelle.

Das Stellwerk West befand sich einst inmitten von Gleisen. Foto: Archiv

Dass sich die Zeiten geändert haben, zeigt allein schon ein Kasten an der Außenwand – eine Wärmepumpe. Zu Zeiten der Weichensteller gab’s hier keine Heizung.

In zwei Jahren feiert das Häuschen den 100. Geburtstag. Es ist auch ein Denkmal für Kurt Weidemann, der an diesem Ort Ideen entwickelt hat, die das gesamte Land erfassten. Das Stellwerk symbolisiert, dass Vergangenheit wichtig ist, weil man aus ihr lernen sollte, um eine gute Zukunft zu bauen.

Das Vermächtnis des großen Gestalters kann noch heute ein Antrieb sein. Auf „drei Gs“, sagte er, komme es an: „Mach es gut, mach es gern, mach es gleich.“ Und: Wer Anstöße geben will, müsse anstößig sein. Man kann das Alte lieben – und das Neue leben.