Korsika weist die höchste Mordrate in Europa aus. Nirgendwo in Frankreich lebt man gefährlicher. Gemeuchelt wird an Tankstellen, in Bars oder auf Parkplätzen.

Ajaccio - Auf Korsika sind selbst Tankstellen schön. Die Esso-Station von Propriano mit ihrem auf weißen Stelzen ruhenden roten Ziegeldach könnte als Modell für einen Lego-Bausatz herhalten. Doch das Idyll trügt. Mitte der Woche fuhr dort der 44-jährige Patrick Sorba vor. Er tankte, bezahlte, kehrte zum Auto zurück und brach kurz vor dem Einsteigen im Maschinengewehrfeuer zusammen. Die Täter saßen in einem Geländewagen, der verlassen und ausgebrannt am Friedhof der südkorsischen Stadt zurückblieb.

 

Korsika verzeichnet damit bereits den 16. Mord seit Jahresbeginn. Das Opfer des 15., der Staranwalt Antoine Sollacaro, lag am Tag des Tankstellenanschlags nicht einmal eine Woche unter der Erde. Auch Sollacaro hatte unter Maschinengewehrsalven sein Leben gelassen. Und wie so oft führen die Spuren in ein verwirrendes Dickicht politischer, kommerzieller und krimineller Beziehungen.

Gemeuchelt wird an Tankstellen und in Bars

Sorba hatte sich im Drogen- und Waffenhandel versucht. Der mit der korsischen Unabhängigkeitsbewegung in Verbindung gebrachte Anwalt war als Verteidiger Yvan Colonnas ins Rampenlicht getreten. Jener Ziegenhirte ist das, der in Paris wegen der Ermordung des Präfekten Claude Erignac vor Gericht stand, des höchsten Repräsentanten des französischen Staates auf Korsika, und zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Der Jurist hatte aber auch im Immobiliengeschäft mitgemischt. Auch soll er Verbindungen zu einer Sicherheitsfirma unterhalten haben, die auf fragwürdige Weise zu einem öffentlichen Großauftrag kam und deren Gründer ebenfalls umgebracht wurden.

Klar ist nur, dass die „Insel der Schönheit“, wie die Franzosen Korsika nennen, als Schauplatz hässlicher Morde Furore macht. Nirgends in Frankreich lebt man gefährlicher. An keinem Ort Europas ist die Mordrate höher. Gemeuchelt wird in Tankstellen, Bars oder auf Parkplätzen. „Die Gewalt wuchert über Berg und Tal, sie prägt die Mentalitäten, organisiert die Gesellschaft, nährt die Gespräche, schwärzt die Zeitungskolumnen, breitet sich im Umfeld der Ruinen aus, verpestet die Straßen“, hat der korsische Essayist Nicolas Giudici geschrieben, bevor er umgebracht wurde.

Die Regierung verspricht Abhilfe. „Die Gewalt hat ein Ausmaß erreicht, das die Fundamente der korsischen Gesellschaft bedroht“, hat Frankreichs Premier Jean-Marc Ayrault festgestellt und ist zur Tat geschritten. Der Regierungschef hat einen Zehn-Punkte-Plan präsentiert. Mehr Polizei, mehr Informationsaustausch und eine bessere Ausrüstung der Sicherheitskräfte soll es geben.

Kriminelle Banden machen einander die Geschäfte streitig

Hinter martialischen Worten und umfangreichem Aktionsplan verbirgt sich freilich Ratlosigkeit. Politik und Justiz tappen im Dunkeln. Die Ursachen der Gewalt sind vielfältig, die Motive für das Blutvergießen meist schwer freizulegen.

Da gibt es eine Vielzahl mit einander rivalisierender nationalistischer Gruppen und Grüppchen, die im Namen der Vaterlandsliebe nicht nur friedlich zu Werke gehen. Kriminelle Banden mit wohlklingenden Namen wie Meeresbrise machen einander Einflusszonen und Geschäfte streitig. Geblendet vom Glanz großer Autos und Villen, die sich Festlandsfranzosen auf der Insel leisten, versuchen Jugendliche als Drogendealer das schnelle Geld zu machen.

Erschwerend kommt hinzu, dass das Gebot der Aufklärung mit dem Gesetz des Schweigens kollidiert. Gut 300 000 Einwohner zählt die Insel. Zu wenig sind das, als dass im anonymen Dunkel untertauchen könnte, wer bei der Polizei auspackt. Über Verbrechen spricht man nicht, lautet ein auf der Insel beherzigter Ratschlag.

Das Gesetz des Schweigens ist weit verbreitet

Freunde und Angehörige eines mutmaßlichen Gewalttäters pflegen sich besonders wortkarg zu zeigen. „Er mag ein Mörder sein, aber er ist einer von uns“, lautet eine häufig zu vernehmende Rechtfertigung des Schweigens. So manches Verbrechen wurzelt gar im familiären Zusammengehörigkeitsgefühl. Noch immer gibt es Blutrache auf Korsika, wird Gewalt auch noch Generationen später mit neuer Gewalt vergolten.

Touristen haben indes nichts zu befürchten. Sie haben sich im korsischen Beziehungsgeflecht nicht verheddert. Mit ihnen sind keine alten Rechnungen zu begleichen. Sie können sich weiterhin unbekümmert an den Stränden und der Bergwelt Korsikas erfreuen. Die Urlauber sind denjenigen, die hinter Gewaltverbrechen stehen, häufig sogar hochwillkommen. So mancher Kriminelle wäscht schmutziges Geld aus Erpressung, Glücksspiel oder Drogenhandel in der Tourismusbranche, investiert in Hotels, Restaurants und Ferienwohnungen.