Kritik zum neuen Musikzentrum in Plochingen Ein Haus, das Rhythmus hat

Torbogen als einladende Geste: das neue Musikzentrum Baden-Württemberg in Plochingen Foto: Roland Halbe/Roland Halbe

Die Amateurmusik des Landes hat ein neues Bildungs- und Tagungshaus in Plochingen. Das Stuttgarter Architekturbüro Lederer Ragnarsdóttir Oei setzt der unwirtlichen Lage an den Bahngleisen ein Ensemble von ausgeprägter Harmonie entgegen.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Hinten Lärm, vorne Musik. Mit diesen vier Worten ist die Lage des neuen Musikzentrums Baden-Württemberg in Plochingen exakt umrissen. In unmittelbarer Bahnhofsnähe direkt an den Gleisen hat das Haus seinen Sitz. Wo früher Schrott verrostete und Lagerhallen standen, finden jetzt Amateurorchester und -chöre sowie Musikvereine und Ensembles aus dem Land ideale Probenbedingungen. Vereinsmanager tagen, Seniorenbläser, Dirigenten und Blockflötenklassenleiter schulen sich, und die baden-württembergische Musikvereinsjugend lernt in Workshops dazu.

 

Elegantes Ensemble in unwirtlicher Lage

Seine kulturelle Nutzung verrät der vom Blasmusikverband Baden-Württemberg (BVBW) errichtete Bau nicht auf Anhieb. Von den 08/15-Industrieschachteln in der Umgebung hebt sich das Ensemble gleichwohl durch seine ausgesucht harmonische Handhabung von Material und Form ab. Bodentiefe Fenster rastern in perfekter orthogonaler Ordnung die Fassade, tiefrote Jalousien setzen einen fröhlichen Kontrapunkt. Was zuallererst aufmerken lässt, ist das Kleid aus hellem Ziegelstein. Es umhüllt das gesamte Volumen und verleiht ihm eine elegante Stattlichkeit, die der unwirtlichen Lage die Stirn bietet. Das Stuttgarter Büro Lederer Ragnarsdóttir Oei, das inzwischen LRO heißt, ging 2016 siegreich aus einem Wettbewerb hervor und variiert hier ein weiteres Mal gekonnt sein Lieblingsmaterial.

Wie mit einer Plätzchenform aus der Betondecke gestanzt

Die Architektinnen und Architekten haben dem Haus der Musik Rhythmus verliehen und die in mehrere Elemente gegliederte Baumasse in der Höhe gestaffelt. Zwei Kuben sind durch einen Hof miteinander verknüpft; eine umlaufende Mauer fügt alle Teile zu einer Einheit zusammen. Während der Eingangshof zu den Gleisen hin durch die Ziegelmauer vom Bahnverkehr abgeschirmt wird, öffnet er sich zur Straße mit einem weit gespannten Torbogen – und himmelwärts mit einem Kreisrund, das wie mit einer Plätzchenform aus einer Betondecke herausgestanzt scheint. Das Bogenmotiv hat das Architektenteam auch bei seinem gefeierten Neubau des Volkstheaters München verwendet – in beiden Fällen funktioniert es blendend als herzlicher Begrüßungshandschlag.

Aus- und Weiterbildungszentrale für die Amateurmusik im Land

Die Willkommensgeste gilt der Mitarbeiterschaft sowohl des BVBW als auch der weiteren Musikverbände, die hier ihre Verwaltungsräume haben, etwa die Bläserjugend Baden-Württemberg oder der Schwäbische Chorverband. Mit der baden-württembergischen Chorakademie und der Bläserakademie als weiteren Nutzern versteht sich das Haus zudem als Aus- und Weiterbildungszentrale. Ziel sei es gewesen, sämtliche Institutionen der Amateurmusikszene im Land zu bündeln, so BVBW-Präsident Guido Wolf. Die ausgezeichnete Verkehrsanbindung durch den Bahnhof wie auch durch die nahe B 10 für die zu Workshops, Tagungen und Konzerten anreisenden Nutzer war ausschlaggebend für die Wahl des Standorts.

Buchstaben und Ziffern haben musikalischen Schwung

Was den Besuchern wohl als allererstes ins Auge springen dürfte, sind das Logo und das in der gleichen Optik gehaltene Leitsystem in den Gebäuden. Unverkennbar wurde vom Stuttgarter Büro Uebele der Versuch unternommen, Buchstaben und Ziffern in musikalischen Schwung zu versetzen. Das Design mag auf den ersten Blick exzentrisch verspielt anmuten mit all den gekippten, unterschlängelten und vielgestaltig aufgepeppten Lettern. Zur geometrischen Strenge der Architektur bildet es aber einen belebenden Kontrast.

Das Logo hat musikalischen Schwung

Rechts des Hofes liegt das Gästehaus. Von den Wegweisern an den samtigen Betonwänden des Foyers buchstäblich beschwingt, findet man im Erdgeschoss zur Bar wie zum Restaurant. LRO haben das Hofmotiv variiert und den Speisesaal am nördlichen Rand des Gebäudes in U-Form um eine Freiluftzone angelegt. Im Clubraum entstammen Elemente wie halbhoch mit Eichenholz verkleidete Wände, in die eine Sitzbank integriert wurde, oder auch die Bullaugen dem Werkzeugkasten, aus dem LRO seit jeher schöpfen, um bei den Nutzern ihrer Häuser Wohlgefühle zu erzeugen. Minimalistisch muten die Gästezimmer in den vier Obergeschossen an mit ihren schlichten weißen Einbaumöbeln und den von der Fassade zurückgesetzten schmalen Loggien. Linkerseits des Hofs öffnet sich die mit brüniertem Messing verkleidete Eingangstür zum Akademietrakt, der in seinen drei oberirdischen Geschossen Büros sowie ein ganzes Bündel an Seminar- und Proberäumen sowie Säle unterschiedlicher Größe aufnimmt und von einer Dachterrasse gekrönt wird.

Ausgeprägtes Materialgespür

Mit Ziegelsteinen verkleidete Flurwände, viel helles Holz für Türen und Wandpaneele, grasgrüner Textilbodenbelag in den Büroräumen: Die Architekten lassen abermals ihr ausgeprägtes Materialgespür walten. Wie die Mensa im Gästehaus sitzt auch hier der größte Raum, der 300 Quadratmeter große, durch sein Oberlicht bis über drei Geschosse aufragende Orchestersaal, ganz am Rand des Baukörpers und akzentuiert dessen Abschluss.

Im Orchestersaal tanzen die Buchstaben auf der Betonwand

Stolz sind Architekten wie Bauherr auf die unterschiedlichsten Nutzungen anpassbare Akustikausstattung der Musizierräume, zu der im Großen Saal etwa die aufklappbaren Wandverkleidungen aus gelochtem Ahornholz gehören. Wenn hier musiziert oder gesungen wird, scheint sich sogar die Sichtbetonwand im Takt der Musik zu bewegen: Die darauf großformatig angebrachten, aus dem Leitsystem bekannten Linien, Lettern und Zeichen vollführen einen ausgelassenen Tanz.

Architekturbüro und Newsletter

Architekten
Das 1979 gegründete Stuttgarter Büro LRO Lederer Ragnarsdóttir Oei hat sich 2021 Jahr in LRO umfirmiert; Marc Oei ist einer der geschäftsführenden Gesellschafter. In Stuttgart realisierten LRO zuletzt den Erweiterungsbau der Württembergischen Landesbibliothek. Die Mitbegründer des ursprünglichen Büros, Arno Lederer und Jórunn Ragnarsdóttir, gründeten im vergangenen Jahr in Berlin gemeinsam mit ihrem Sohn Sölvi Lederer das Architekturbüro Lederer Ragnarsdóttir.

Amateurmusik
Der Blasmusikverband Baden-Württemberg vertritt 106 000 aktiv Musizierende und mehr als 3300 Orchester und Ensembles. 

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