Studierende aus Serbien radeln derzeit mit dem Fahrrad durch Europa, um die Protestwelle in ihrer Heimat zu unterstützen. Bei einem Zwischenstopp in Stuttgart jubelt ihnen die serbische Diaspora zu. Was treibt die Radfahrer an?

Volontäre: Valentin Schwarz (vas)

Sofija Janković stehen die Strapazen der vergangenen Tage ins Gesicht geschrieben. Dennoch klingt die 20-jährige Serbin fest entschlossen: „Wir kämpfen für Gerechtigkeit und für unser Land, das wir lieben.“ Janković ist eine von rund 80 Studierenden, die am 3. April mit dem Fahrrad im serbischen Novi Sad aufgebrochen sind. Mit einer Tour durch Europa wollen sie auf die Missstände in ihrem Heimatland aufmerksam machen. Läuft alles nach Plan, erreichen sie am Dienstag, 15. April, Straßburg, den Sitz mehrerer EU-Institutionen.

 

Einer der Stopps auf dem Weg: Stuttgart. Am Montagmorgen schwingen sich die Studierenden hier wieder aufs Rad, um auf der vorletzten Etappe bis Karlsruhe zu fahren. Einige Stunden vorher haben rund 1000 Menschen den Studierenden bei einer Kundgebung auf dem Stuttgarter Marienplatz zugejubelt. Der Großteil der Anwesenden gehört zur serbischen Diaspora in der Region. „Sie haben Serbien aufgeweckt, jetzt wollen wir sie unterstützen“, sagt die 44-jährige Stuttgarterin Vesna Drasković über die Studierenden.

Katastrophe als Auslöser für Proteste in Serbien

In Serbien brodelt es momentan. Kritiker werfen Staatspräsident Aleksandar Vučić schon seit Jahren autokratische Tendenzen vor und machen ihn für die grassierende Korruption im Land mitverantwortlich. Inzwischen hat die Protestwelle gegen seine Regierung jedoch eine neue Dimension erreicht.

Der Auslöser: eine Katastrophe in Novi Sad. Am 1. November 2024 stürzte in der Großstadt im Norden des Landes das Dach eines Bahnhofs ein, 16 Menschen kamen ums Leben. Und das, obwohl das Gebäude erst Monate zuvor renoviert worden war. Zur Rechenschaft gezogen wurde bislang niemand – der Funke, an dem sich das Protestfeuer endgültig entzündete.

Studierende begannen, Universitäten im ganzen Land zu blockieren. Nach und nach schlossen sich breitere Schichten der Gesellschaft den Protesten an. Im März versammelten sich mehr als 100.000 Demonstrierende auf den Straßen der Hauptstadt Belgrad. Die Regierung reagiert mit Repressionen, lässt die Polizei immer wieder gewaltsam gegen die Protestierenden vorgehen.

Serbische Studierende wollen Europa aufwecken

In der westeuropäischen Öffentlichkeit spielt all das jedoch eine Nebenrolle, die Lage in Serbien findet ungleich weniger Beachtung, als etwa die in der Türkei. Um dies zu ändern, sind die Studierenden vor eineinhalb Wochen in Novi Sad – am Ort der Bahnhofskatastrophe – aufgebrochen. „Wir wollen mit der Aktion auch Europa aufwecken“, sagt Marija M., die als Medienbeauftragte mit der Gruppe reist. Ihren vollen Nachnamen will die 23-jährige Studentin nicht nennen – aus Angst vor Repressionen nach der Rückkehr.

Die Route führte zunächst über Ungarn und Österreich nach Deutschland. Enden soll die Aktion in Straßburg mit einem Marsch vom Europarat vorbei am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bis zum Europäischen Parlament. 1400 Kilometer in 12 Tagen zurückzulegen – das ist selbst für die ausdauerstarken Studierenden eine Herausforderung. Nach der Ankunft in Stuttgart erhalten sie Massagen für die müden Beine. „Körperlich ist das extrem anstrengend“, sagt Sofija Janković. „Dank unserer Motivation, in Serbien etwas zu verändern, kann ich den Schmerz aber überwinden.“

Tagesziel erreicht: die Studierenden auf dem Marienplatz. Foto: privat

Jubel bei Kundgebung in Stuttgart

Auf dem Marienplatz hat sich bereits Stunden vor der Ankunft der Studierenden eine Menschenmenge versammelt. Die Anwesenden schwenken serbische Flaggen, tanzen zu serbischen Popliedern und recken Plakate in die Höhe mit dem Motto „Pumpaj“, serbisch für: Pumpen. Gemeint ist allerdings nicht, Luft in die Fahrradreifen zu pumpen – sondern den Druck auf Vučićs Regierung zu erhöhen. Als die Studierenden schließlich über den für sie ausgerollten roten Teppich fahren, branden Jubelstürme auf.

Sevetlana Bokun Asanović hat die Kundgebung mitorganisiert. Die 56-Jährige lebt seit 1999 in Stuttgart. Ihr Herz hänge aber weiterhin auch an der früheren Heimat Serbien, sagt sie. Deshalb mache es sie traurig, an die fehlende Rechtsstaatlichkeit im Land und die ökonomische Perspektivlosigkeit vieler Serben zu denken. Umso emotionaler wird Bokun Asanović, wenn sie auf die Proteste zu sprechen kommt. „Die Energie der Studierenden ist auf uns übergesprungen“, sagt sie – und verdrückt dabei eine Träne. „Das zeigt der Welt ein neues, modernes Bild von den Serben.“

Ob die Aktion – und die Proteste im Allgemeinen – nachhaltig etwas bewirken, ist ungewiss. Präsident Vučić klammert sich fest an die Macht, scheint bislang nicht zu Zugeständnissen bereit. Marija M. ist sich jedoch sicher, dass die Bewegung sehr wohl etwas verändern kann. Die Studentin sagt: „Wir geben nicht auf, denn wir verdienen die Demokratie.“

Die Lage in Serbien

Präsident
Aleksandar Vučić ist seit 2017 der amtierende Präsident Serbiens und damit die politisch mächtigste Person im Land. Vor allem wegen seines autokratischen Regierungsstils steht er jedoch sowohl im Land als auch außerhalb stark in der Kritik. Ein weiter Vorwurf lautet, dass unter seiner Regierung die Korruption im Land prächtig gedeihe. Und auch Vučićs Nähe zur Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin sowie seine ambivalente Haltung zum Krieg in der Ukraine sorgen immer wieder für Unmut.

Proteste
Mit ihren Universitätsblockaden haben Studierende in Novi Sad, Belgrad und anderen Städten des Landes eine Protestwelle ausgelöst, die längst über die ganze Gesellschaft geschwappt ist. Im Januar wurde die Bewegung für den Friedensnobelpreis nominiert, im März gingen Hunderttausende auf die Straßen. Besonders Wert legen die Studierenden nach eigener Aussage darauf, von keiner politischen Partei vereinnahmt zu werden.

Reaktion
Seitdem die Protest wachsen, wird auch der Druck größer, den die Regierung auf die Bewegung ausübt. Im Februar strich der Staat beispielsweise die Gehälter von Lehrkräften, die sich an den Protesten beteiligt hatten. Bei Demonstrationen geht die Polizei mit harter Hand vor. Vučić hat derweil am vergangenen Samstag vor rund 55.000 Menschen in Belgrad eine „Bewegung für das Volk und den Staat“ ins Leben gerufen.