Toter S-Bahn-Surfer Tod auf dem S-Bahn-Gleis: Gutachter muss kein Schmerzensgeld bezahlen
Eine Familie aus dem Rems-Murr-Kreis macht einen Psychiater für den Suizid des Sohnes verantwortlich. Der Richter sieht dafür keine Anhaltspunkte.
Eine Familie aus dem Rems-Murr-Kreis macht einen Psychiater für den Suizid des Sohnes verantwortlich. Der Richter sieht dafür keine Anhaltspunkte.
Das Landgericht Stuttgart hat die Klage einer Familie aus dem Rems-Murr-Kreis auf 100 000 Euro Schmerzensgeld gegen einen Kinderpsychiater und ehemaligen Abteilungsleiter eines Krankenhauses abgewiesen. Das hatte sich in der Verhandlung Mitte April bereits angedeutet. Die Kläger machen den Gutachter für den Tod ihres Sohnes mitverantwortlich, der sich Anfang 2022 im Alter von 16 Jahren – nach einer langen Leidensphase und einem Untersuchungsmarathon durch Praxen von Psychologen – vermutlich in Suizidabsicht vor einen Zug der S-Bahn Stuttgart geworfen hatte.
Sie unterstellen dem Beklagten ein schlechtes familienpsychologisches Gutachten, eine halbherzige Untersuchung ihres Sohnes, eine aus ihrer Sicht unzulässige Beteiligung Dritter an der Expertise und mangelnde Qualifikation. So habe der Gutachter etwa eine Schizophrenie nicht erkannt, die in der Familie schon häufiger vorgekommen sein soll.
Richter Alex Duncker hatte da bereits angedeutet, er sehe den Beweis, dass der Suizid unmittelbar auf die Empfehlungen des Gutachtens zurückzuführen ist, als nicht erbracht an. In der Urteilsbegründung wies Duncker nun darauf hin, dass die Kläger ihre Einwände gegen das Gutachten im früheren familienrechtlichen Verfahren hätten geltend machen müssen, bei dem sie auch schon anwaltlich vertreten gewesen seien. Dort hätte es auch die Möglichkeit gegeben, im Falle eines zur Unzufriedenheit ausfallenden Ergebnisses den Weg durch die Instanzen zu wählen.
Der Sachverständige habe die von den Klägern als schicksalhaft beschriebene Trennung von der Familie zwar befürwortet, unter anderem weil der Junge beim S-Bahn-Surfen erwischt worden sei. Das Gutachten sei aber erst nach dem Auszug erstellt worden. Zudem habe die Familie die Herausnahme selbst gewünscht. Diesen Umstand hatte der Vater allerdings in der Verhandlung mit dem Hinweis relativiert, die Entscheidung sei durch „Erpressung“ erzwungen worden. Hätte man der Herausnahme des Sohnes aus der Familie nicht zugestimmt, hätte laut Jugendamt auch der jüngere Sohn nicht bleiben dürfen.
Der Richter betonte indes, die inhaltlichen Vorwürfe gegen das Urteil hätten nicht verfangen. Der Gutachter sei hinreichend qualifiziert. Es sei auch in Ordnung, dass er sich der Hilfe von Mitarbeitern bediene. Das Gutachten sei kein Selbstzweck gewesen, sondern eine verlässliche Grundlage für die Entscheidung im familienrechtlichen Verfahren. Angaben über Quellen und verwendete Literatur seien, anders als die Kläger kritisieren, nicht nötig. Die Klage enthalte pauschale Aussagen und Allgemeinplätze, sie habe sich inhaltlich nicht mit dem 84-seitigen Gutachten auseinandergesetzt. Und es sei nicht deutlich gemacht worden, warum die Bewertungen falsch sein sollten
Der Gutachter, der der Verhandlung im April ferngeblieben war, sollte 60 000 Euro für den erlittenen Verlust des Kontakts des Sohnes zur Familie durch dessen vollzogene Herausnahme bezahlen. Mit 10 000 Euro soll der vor eineinhalb Jahren eingetretene Tod gesühnt werden, mit derselben Summe die als Beleidigung empfundene Feststellung im Gutachten, die Eltern seien nicht fähig, die Probleme des Jungen zu erkennen und ihn zu fördern, deren gesundheitliche Beeinträchtigungen sowie Datenschutzverstöße.
Die tragische Geschichte eines psychisch schwer kranken Jugendlichen, der nicht in der Familie bleiben durfte, aber offensichtlich in zwei Heimen – während der Coronazeit – nicht gut aufgehoben war und am Ende auch nicht in einer geschlossenen Anstalt bleiben und langfristig therapiert werden durfte, ist nur ein Grund gewesen, dass sich vor vier Wochen rund 40 Zuhörer, von denen die meisten schlechte Erfahrungen mit Sachverständigen gemacht haben dürften, die über Wohl und Wehe von Familien entscheiden, teils mit schwarzen Trauerbinden am Arm im Zuschauerbereich drängten. Der beklagte Gutachter ist eines ihrer Feindbilder. Betroffene haben sich deshalb vernetzt und gehen orchestriert gegen den Gutachter vor, der laut seiner Anwältin jährlich mehr als 200 Gutachten erstellt – teils gemeinsam mit Kollegen.
Bundesweit ist eine Diskussion über die Vorgehensweise von Ärzten entbrannt, Gutachtenaufgaben oder Teile davon zu delegieren. Hieraus resultiert der konkrete Vorwurf, ungefragt persönliche Daten an Dritte weiterzugeben. Dass die Eltern beleidigt worden seien, konnte der Richter nicht erkennen. Es handele sich um ein zulässiges Werturteil. Ein Verstoß gegen den Datenschutz, weil Informationen an Mitarbeiter weitergegeben wurden, liege wegen der Zulässigkeit zur Übertragung von Aufgaben auch nicht vor.
Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 und unter https://ts-im-internet.de/ erreichbar. Eine Liste mit Hilfsangeboten findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: https://www.suizidprophylaxe.de/