Ein Mann mit vielen Gesichtern: Bob Dylan Foto: dpa
Wer ist der Musiker, dessen Karrierestart im Biopic „Like A Complete Unknown“ erzählt wird? Ganz genau weiß das bis heute niemand. Denn der stetige Wandel treibt nach wie vor das Schaffen von Bob Dylan an, der auch mit 83 noch Haken schlagend den Erwartungen seiner Fans entwischt.
Michael Werner
26.02.2025 - 14:00 Uhr
Immer wieder die Royal Albert Hall in London, einer der würdigsten Orte in Europa für die Präsentation von Musik: Knapp ein Jahr nach dem Newport Folk Festival 1965 – auch in James Mangolds Biopic „Like A Complete Unknown“ Bob Dylans musikalischer Wendepunkt – rief bei seinem Konzert in der Free Trade Hall von Manchester ein empörter Fan tatsächlich dem Sänger „Judas!“ entgegen, woraufhin der ob seiner musikalischen Elektrifizierung Gescholtene seine Band bekanntlich anwies, „Like a Rolling Stone“ „verdammt laut“ zu spielen. Die berühmt gewordene Auseinandersetzung, die Mangold kreativ um ein Jahr vor- und jenseits des großes Teiches verlegt, erschien Jahrzehnte später bei Columbia Records auf dem Konzertmitschnitt, der, einen frühen Bootleg-Beschriftungsfehler zitierend, wiewohl in Manchester entstanden, von Dylans Plattenfirma „The Royal Albert Hall Concert“ genannt wurde. Das hörenswerte Live-Album aus dem Dylan-Archiv zeigt, wie lange die Aufregung, ja, auch die Abscheu, ob der zur Explosion gebrachten Erwartungen an den Musiker tatsächlich währte, der Dylan die radikalstmögliche Erweiterung des Folk-Begriffes entgegensetzte.
Knapp sechs Jahrzehnte nach dem legendären Wortgefecht stellte Bob Dylan am 13. November 2024 – diesmal tatsächlich in der Londoner Royal Albert Hall – erneut unter Beweis, wie wenig er sich mit dem bereits Erreichten begnügt: Beim vermeintlich vorletzten Konzert seiner zunächst als dreijährige Unternehmung annoncierten „Rough And Rowdy Ways“ betitelten Welttournee beraubte er seinen Song „My Own Version of You“, den er zuvor 228 Mal als swingenden Groove-Höhepunkt seiner Konzerte zelebriert hatte, komplett seines Rhythmus. Bass und Schlagzeug hatten in London erstmals zu schweigen, während Dylan seine schaurige Frankensteiniade plötzlich als einsames Klagelied darbot, nur untermalt von geisterbahnhaften Klavierfetzen und falschfährtig süßen Gitarrenlicks. Der Zusammenbau eines adäquaten Gegenübers aus gebrauchten Körperteilen klang nun tatsächlich wie aus einer mitternächtlichen Leichenhalle heraus gesungen, und gestandene Männer im Publikum, die Dylan-Konzerte sammeln wie andere Leute Briefmarken, kämpften mit Tränen der Rührung denen sie sich 24 Stunden später ergaben, als Dylan beschloss, seinen freigelegten Sprechgesang nun auch noch mit einer neu erfundenen Melodie zu veredeln.
Das Woodstock-Festival hat er geschwänzt
Abgesehen davon, dass Bob Dylan seine erste Tournee mit annonciertem Verfallsdatum (2021- 2024) gerade ohne viel Aufhebens um neue Termine für 2025 erweitert hat: Zwischen dem „Royal Albert Hall Concert“ von 1966 und Dylans bisher letztem Konzert in London liegen knapp sechs Jahrzehnte Befreiungskampf im Netz der Erwartungen, dessen Anfänge James Mangold in „Like A Comlete Unknown“ thematisiert: Bereits wenige Wochen nach dem falsch beschrifteten Konzert in Manchester verlor Bob Dylan die Kontrolle über sein Motorrad des Typs Triumph Tiger und baute einen Unfall, dessen Schweregrad seitdem Gegenstand von Fandebatten ist. Jedenfalls verabschiedete sich der zuvor intensiv konzertierende Barde vom Sommer 1966 an für mehrere Jahre vom Tourneeleben, zog sich in sein Haus in Woodstock zurück, schwänzte aber zum Missfallen von Joan Baez das Festival ebendort, das 1969 von der Generation überrannt wurde, die den einstigen Protestsänger und verstummten Rockstar fünf Jahre zuvor als ihren Sprecher reklamiert hatte. Stattdessen meldete er sich schließlich mit Alben voller einfach strukturierter Songs zurück, in denen er zur Verblüffung seiner Gefolgschaft plötzlich nicht mehr latent aggressiv nölte, sondern mit scheinbar geheilter, jedenfalls grundlegend veränderter Stimme zu Country-Begleitung betörend lieblich von grundlegenden Bedürfnissen sang.
Bob Dylans Stimme ist ein eigener Kosmos. Sie entwickelt sich wie ihr Besitzer konträr zu gängigen Erwartungen und widersteht scheinbar mühelos der Schwerkraft der Jahre. Besonders intensiv hat der Sänger auf seinem Weihnachtsalbum „Christmas In the Heart“ (2009) an den Grenzen zur Tonlosigkeit geschabt. Insbesondere seine leidenschaftlich schiefe Version des Klassikers „O’ Come All Ye Faithful“ ist geeignet, beim bloßen Zuhören Halsschmerzen auszulösen. Auf seinem großartigen aktuellen Album „Rough And Rowdy Ways“ (2020) hingegen präsentiert der einstige Nasalspezialist neben entschlossenem Fauchen und genussvollem Crooning auch im klassischen Sinn überzeugenden Schöngesang. Die Hingabe, mir der sich Dylan sein Liebeslied „I’ve Made Up My Mind to Give Myself to You“ auch stimmlich zu eigen macht, hätte man ein Jahrzehnt zuvor kaum für möglich gehalten.
Bob Dylan Mitte der sechziger Jahre in einem der ersten Musikvideos Foto: Sony Music
Auch nicht die Wandlung von der komfortablen Simplizität eines Liebesliedes wie „Lay, Lady, Lay“ (1969) zur schmerzverzerrten musikalischen und insbesondere lyrischen Dichtheit des Spinnennetz-Songs „Tangled Up in Blue“, der 1975 auf Dylans Meisterwerk „Blood on the Tracks“ erschien und eine Alben-Trilogie einläutete, die an die expressiven Explosionen anknüpfte, die der Musiker ein Jahrzehnt zuvor in fiebriger Taktung herauszuschleudern beliebte. Doch gerade, als sich die alten Fans mit ihrem Idol versöhnt hatte, mutete ihnen Dylan eine Verwandlung zu, die selbst viele jener Anhänger verstörte, die 1965 seine E-Gitarre zu tolerieren bereit waren: Als die Siebzigerjahre in die Achtziger kippten, mutierte Dylan in seiner christlichsten Phase zum opulent orchestrierten Prediger samt stimmstarken Gospelchor: Der Mann, der zuvor postuliert hatte: „Don’t follow leaders, watch the parkin’ meters“ sang nun drei Alben lang von seinen Erfahrungen als „Eigentum von Jesus“ und verkündete: „Ich wurde gerettet – durch das Blut des Lammes.“
So überraschend, wie Bob Dylan 1979 zu predigen begonnen hatte, so unvermittelt hörte er Anfang der Achtziger wieder damit auf und veröffentlichte ein Album, das er übersetzt „Ungläubige“ nannte. Im Eröffnungssong besang er einen „Jokerman“ mit den Worten: „Eine weitere Hautschicht abwerfen“ und „dem inneren Verfolger immer einen Schritt voraus sein“. In einem Interview erklärte er: „Ich bereue es nicht besonders, den Leuten gesagt zu haben, wie sie ihre Seelen retten können. Aber vielleicht ist die Zeit für mich, das zu sagen, einfach gekommen und gegangen. Jetzt ist es Zeit für mich, etwas anderes zu tun. Jesus selbst hat nur drei Jahre lang gepredigt.“
Künstlerische Wiedergeburt anno 1997
Bob Dylans nächste Häutung manifestierte sich nach einem vielversprechenden Start in das Jahrzehnt, in dem viel Hall auf der Snaredrum in Mode war, in ein paar grottenschlechten Alben in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre. Und kurz nachdem Dylan als aktives Fünftel der Supergroup Traveling Wilburys höchst kreativ und vor allem lustvoll den Verbund mit George Harrison, Tom Petty, Jeff Lynne und Roy Orbison feierte, gab der erkennbar mit toxischen Substanzen kämpfende Sänger am 17. Juni 1991 in der Stuttgarter Liederhalle ein Konzert, das inzwischen als „Worst show ever???“ auf YouTube bestaunt werden kann: Nach einzelnen windschief danebengestocherten Akkorden, als ein offenkundig wenig entschlossener Rockstar seiner stoischen Band zu Beginn ein vierminütiges Intro abnötigte, stieß er sein Keyboard fort und rührte es den ganzen Abend lang nicht mehr an.
Umso erfreulicher verlief Bob Dylans nächste Neuerfindung seiner selbst, eine Art künstlerische Wiedergeburt: Kurz nachdem er eine lebensbedrohliche Herzbeutelentzündung überstanden hatte, erschien 1997 der düstere Meilenstein „Time Out of Mind“, das Album, das Dylans fulminantes Spätwerk unter anderem mit der Diagnose einläutete, dass er zwar noch nicht dunkel sei, aber dass es dunkel werde. Kokett antwortete der damals noch nicht mal Sechzigjährige auf einschlägige Kommentare, wonach dieses Album wie das Ende klinge, dass er es für einen Anfang halte.
Ein Eisenbahnwagon vom Songwriter
Tatsächlich übertraf sich Bob Dylan im 21. Jahrhundert immer wieder selbst: Seine Fans streiten leidenschaftlich auf X (vormals Twitter), ob nun „Love and Theft“ (2001), „Modern Times“ (2006) oder doch „Rough And Rowdy Ways“ (2020) sein triftigster Kommentar zum betrüblichen Jetzt geworden sei. Zwischen derart stringenten Meisterwerken verblüffte der wirkmächtigste Songwriter des Planeten drei Alben lang mit dem Verzicht auf eigenes Liedgut und erforschte stattdessen jenen Teil des Great American Songbooks, an dem sich schon Frank Sinatra zu schaffen gemacht hatte. Seit der Corona-Zwangspause tourt Dylan erneut unermüdlich und beauftragt dabei beispielsweise seinen neuen Drummer – der sich als sein uralter Kumpel Jim Keltner entpuppt – sechzig Jahre alte Hits mit bizarr galoppierenden Toms zu befeuern. Überdies können Fans in diversen Galerien neuer Aquarellen des Meisters angesichtig werden, oder sie pilgern nach Südfrankreich, wo ein fantastisch zusammengeschweißter Eisenbahnwaggon des Skulpteurs Bob Dylan abgestellt wurde. Außerdem nimmt der Barde hin und wieder alte Songs neu auf, die dann zu einem experimentellen Konzertfilm in Schwarzweiß gerinnen oder auf einer Aktion 1,8 Millionen Dollar erzielen – als angeblich klangtechnisch unübertroffenes Unikat. Ach ja, und statt seinen 2004 gefeierten autobiografischen Roman „Chronicles: Volume One“ fortzusetzen, überraschte Bob Dylan vor zwei Jahren mit einer launigen Aufsatzsammlung über seiner Ansicht nach besonders gelungene Lieder zumeist längst verstorbener Kollegen.
Und dann startet jetzt mit mehr als zweimonatiger Verspätung endlich auch in Deutschland „Like A Complete Unknown“, das Biopic, dem Dylan kurz vor Weihnachten als neu entbrannter Social-Media-Content-Creator einen bemerkenswert dylanesken Tweet widmete, der offen ließ, ob er sich die filmische Würdigung seiner Anfänge im Greenwich Village überhaupt angesehen hat: „Timmy ist ein brillanter Schauspieler, deshalb bin ich sicher, dass er mich komplett glaubhaft verkörpern wird. Oder eine jüngere Variante von mir. Oder ein anderes mich.“ Einer der berührendsten Songs seines aktuellen Albums thematisiert übrigens Dylans Vielschichtigkeit und heißt „I Contain Multitudes“. Es ist das Lied, bei dem sich Bob Dylan bei seinen Konzerten oft erstmals vom Klavierschemel erhebt.