Prominente machten den Club Voltaire zur Legende, vor 50 Jahren wurde die Linkenkneipe gegründet. Sie endete mit einer Besetzung – durch Linke.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Für einen Hort linken Gedankenguts ist das Ende geradezu lyrisch. „Wir wollten immer alles Mögliche besetzen“, sagt Peter Grohmann, „vor allem Fabriken natürlich“. Dann besetzten tatsächliche Besetzer die verhinderten Besetzer. Eine Gruppe selbst ernannter Revolutionäre „hat die Schlösser ausgetauscht“, sagt Grohmann. „Wir standen dumm davor.“ Die Polizei zu rufen, schien eine eher rechte als linksrevolutionäre Konsequenz.

 

Auf Grohmann – damals Schriftsetzer, heute Kabarettist – war seinerzeit die Schanklizenz des Clubs Voltaire ausgestellt. Dessen Besetzung war zwar nicht das unmittelbare Ende des Linken-Treffpunkts inmitten des Leonhardsviertels, aber wenig später zahlten die neuen Betreiber keine Miete mehr. Was Grohmann im Rückblick nicht einmal schmerzt. Sonst wäre es ihm womöglich ergangen wie den Grünen: „Erst protestierst du in Brokdorf, dann wirst du Staatssekretär“, sagt er.

Eine Anwohnerinitiative will des Clubs Gedenken

Der Club Voltaire ist vor 50 Jahren eröffnet worden. Im Sommer will eine Initiative von Bewohnern des Leonhardsviertels mit einem Fest an das legendäre Zentrum erinnern. Sieben Jahre hat der Treffpunkt tatsächlicher und vermeintlicher Linker überdauert – wer zu wem zählte, darüber stritten selbstverständlich zuvorderst die Linken selbst. Der Club lockte auch zwielichtige Gestalten wie den später verurteilten Serienstraftäter und Päderasten Helmut Kamenzin. „Wo Toleranz groß geschrieben wird, versammeln sich Verrückte“, sagt Grohmann. Deshalb fehlten auch immer wieder die Einnahmen in der Kasse.

Sagenumwoben machten – nach seinem Ende – später Prominente den Club. Klaus Croissant und Willi Hoss gehörten zu den Gründern. Joschka Fischer war Stammgast. Den Betreibern galt der junge Salonrevoluzzer samt seinen Theorien als Nervensäge. „Wir waren Arbeiter“, sagt Grohmann. Sie standen nach Feierabend hinter der Theke oder renovierten. Fischer referierte, dass Arbeit des Teufels und Massenstreik das Mittel des Klassenkampfes sei.

Den Voltaire-Gründern „ging es gar nicht so sehr darum, die Welt zu politisieren“, sagt Grohmann, sondern gleichsam um die Kneipe, die Stammkneipe wäre, wenn es sie gäbe. Das wurde der Club Voltaire im besten Sinn. Umrundet von Huren, trifft Arbeiter Student trifft Professor trifft Zuhälter trifft Penner trifft Philosoph. Dies in einem Gedränge, das kaum erlaubt, mit niemandem ins Gespräch zu kommen.

Der ganze legendäre Laden war gerade 60 Quadratmeter groß, verteilt auf zwei Etagen, abzüglich Theke, abzüglich Bühne, auf der jeder auftrat, der gleich welche Botschaft im Geiste hatte. Der Philosoph Max Bense referierte, Verfasser des Werkes mit dem schönen Titel „Semiotische Prozesse und Systeme in Wissenschaftstheorie und Design, Ästhetik und Mathematik“. Seine Reden „hat keine Sau verstanden“, sagt Grohmann, wohl aber, „dass er immer scharf war auf unsere Frauen“. Auf ähnlich viel Verständnis mögen Wolfgang Dauners Jazzimprovisationen gestoßen sein.

Verfassungsschützer trifft Verfassungsfeind

Ein Verfassungsschützer erklärte die Grundlagen seines Tuns, während Herbert Mies sein Bier trank. Mies war damals Vorsitzender der verbotenen KPD. Alles frei nach dem angeblichen Voltaire-Zitat „Ich missbillige, was du sagst, aber würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen“, das tatsächlich die Voltaire-Biografin Evelyn Beatrice Hall erdacht hat.

Bemerkenswerterweise war der Club in den Instanzen des seinerzeit spießbürgerlichen Stuttgart wohlgelitten, obwohl er gegen jede Ordnung und Verordnung verstieß. Die Polizei beruhigte Grohmann, dass es nicht weiter interessiere, wenn Gäste anderes als Tabak rauchen. Die Bürgermeister Otfried Sander und Rolf Thieringer gehörten zu den Hütern der Linkenkneipe. Dieter Rilling, seinerzeit Leiter des Sozialamts, schwärmt noch immer von ihr.

Geblieben ist von all dem – „vieles“, sagt Grohmann. Sie haben damals schon gegen Ausländerfeindlichkeit gekämpft und gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Was heute die Eltern-Kind-Gruppe ist, hieß damals Kinderladen. Die Stadt betreibt heute Bürgerzentren, durchaus zum Zweck der politischen Diskussion. Im ganz Großen ist die Vereinigung Deutschlands und Europas vollzogen, im ganz Kleinen das Betreten des Rasens in keinem Park mehr verboten, zwischendrin steckt das philosophische Café im Hegelhaus.

Verloren gegangen „ist die Gesprächskultur, leider“, sagt Grohmann. Außerdem seien mit dem Club Voltaire die Menschen verschwunden, die ihn betrieben haben, die egal wie eigentlich egal was bewegen wollten. „Heute will jeder, dass Kretschmann und Kuhn es richten“, sagt Grohmann. „Das werden sie nicht, die sicher nicht.“