Literaturnobelpreis für Han Kang Der Widerstand des Traumes

Poetische Mittel, politische Stoßrichtung: Han Kang Foto: IMAGO/TT/IMAGO/Alexander Mahmoud/DN/TT

Gute Entscheidung: Der Literaturnobelpreis geht zum ersten Mal nach Südkorea. Die Schriftstellerin Han Kang legt in ihren Romanen die dunkle Seite des Landes offen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Südkorea ist nicht nur ein strategischer Dreh- und Angelpunkt der Weltpolitik, sondern setzt seit Jahren auf kulturellem Gebiet Maßstäbe. Girl- oder Boy-Bands haben eine internationale Fangemeinde. Und nicht erst seit dem Oscar-Gewinn von „Parasite“ und dem Erfolg einer Serie wie „Squid Game“ gilt das Land unter Cineasten als filmisches Schlaraffenland.

 

Nun kommt mit Han Kang die erste Literaturnobelpreisträgerin des Tigerstaats dazu. Und statt darüber zu lamentieren, dass wieder einmal keiner der ewig übergangenen Hochkaräter zum Zug kam, die Namen sind bekannt, kann man die Schwedische Akademie nur beglückwünschen für das, was sie in diesem Jahr aus der streng gehüteten Blackbox ihrer Entscheidungsfindung hervorgezaubert hat.

Han Kang werde für ihre „intensive poetische Prosa“ geehrt, verkündetet der Sekretär des Nobelkomitees, Mats Malm, sie bringe „historische Traumata“ zur Sprache und lege die „Verletzlichkeit menschlichen Lebens“ bloß.

Pflanzliche Metamorphosen

Anders als bei manchen früheren Preisträgern können sich deutsche Leser von diesen Qualitäten überzeugen, fünf ihrer Bücher liegen in Übersetzung vor. Spätestens seit ihrem 2016 mit dem Man-Booker-Preis ausgezeichneten Roman „Die Vegetarierin“ wurde sie international bekannt. Aus drei verschiedenen Perspektiven wird darin vom Kampf einer jungen Frau gegen die brutalen Strukturen einer patriarchalischen Gesellschaft erzählt. Ihr spontaner Entschluss, kein Fleisch mehr zu essen, entwickelt sich zu einer umfassenden Rebellion gegen die Zwänge der Unterordnung und Normalität einer gleichgeschalteten Welt.

Menschen, die sich in das Innere zurückziehen, bewohnen die Romane Han Kangs: verstummte Schriftstellerinnen, ihrer Erblindung entgegensehende Philologen oder eben Frauen, die sich aus Ekel vor dem Blut der gequälten Kreatur in Pflanzen verwandeln wollen.

Gespaltene Gesellschaft

Um die Einsamen, Seltsamen, Randständigen dieser Erfolgsgeschichten zu verstehen, blickt man am besten auf die Gesellschaft, vor der sie sich in den Schutzraum des Textes zurückziehen. Hinter der nahtlosen Perfektion des K-Pop rumort eine dunkle Seite. Sie zeigt sich in Filmen wie „Parasite“, Serien wie „Squid Game“ – und im Werk der frisch gekürten Nobelpreisträgerin. Unter dem Diktator Park Chung-hee, der 1961 an die Macht kam, erlebte Südkorea innerhalb weniger Jahrzehnte den Aufstieg zu einer der führenden Volkswirtschaften der Welt. Der Preis dafür ist eine der höchsten Selbstmordraten. Die koreanische Halbinsel ist nicht nur in Norden und Süden gespalten, in Steinzeitkommunismus und Turbokapitalismus. Auch die südkoreanische Gesellschaft klafft auseinander in wenige Profiteure und viele, die auf der Strecke bleiben. Und zu den scharfen Gegensätzen zählt auch der zwischen einem Hightech-geprägten Alltag und eine Spiritualität, die nach westlichem Maßstab bisweilen an Aberglauben grenzt.

Han Kang wurde 1970 in Gwangju geboren, und zählt mit 53 Jahren zu den jüngsten mit Nobel-Ehren Gewürdigten. Im Jahr 1980 schlug das bis 1987 autoritär herrschende Militär in ihrer Heimatstadt brutal einen Studentenaufstand nieder. Kurz zuvor war die Familie bereits nach Seoul gezogen. Als sie als Kind Bilder von dem Massaker gesehen habe, sei etwas in ihr zerbrochen, sagte sie einmal in einem Interview. Dieser Bruch ist der Stimulus ihres Schreibens.

Mantel des Schweigens

In Südkorea wurde über die Ereignisse ein Mantel des Schweigens gebreitet. In ihrem Roman „Menschenwerk“ hat sie ihn 2014 gelüftet. In sechs Kapiteln beleuchten verschiedene Akteure das Geschehen aus verschiedenen Zeiten und Perspektiven. Was bleibt in uns, in der Welt, nach dem Erleben von unerhörtem Grauen?

So poetisch die Mittel, so politisch ist die Stoßrichtung dieses Schreibens. Während der Präsidentschaft der südkoreanischen Staatschefin Park Geun Hye stand Han Kang auf einer Schwarzen Liste mit 9000 Kulturschaffenden, die Kritik an der Regierung geübt oder die liberale Opposition unterstützt hatten.

Zerbrochenes wieder zusammenzufügen versuchen auch die Prosaminiaturen „Weiss“. Sie sind um den Tod der kurz nach der Geburt gestorbenen älteren Schwester angeordnet und kreisen um die zentralen Themen Repression und die Körperlichkeit von seelischem Schmerz.

Spiegelbildlich zu der Fleischesaversion verhält sich der Fettpanzer, den sich die Studentin in dem Roman „Kalte Hände“ angefressen hat, um darunter ihre Traumata zu verbergen. Das macht sie zur Muse eines vom „Fest rhythmisch wallender Speckfalten“ faszinierten Bildhauers. Essstörungen sind bei Han Kang körperlich-instinktiver, selbstzerstörerischer Widerstand gegen die Enge, Förmlichkeit und Maskenhaftigkeit der koreanischen Gesellschaft.

Der Traum ist die Kehrseite radikaler Wirklichkeitserfahrungen. Das leise, zarte, fein Gewebte der Texte bringt das Brutale, Rohe der Welt, wie sie ist, in seiner Unerträglichkeit zur Erscheinung.

„Im Moment des Träumens hält man alles für wahr. Wenn die Nacht aber vorbei ist, weiß man, dass es nicht die Wirklichkeit war. Wenn wir also eines Tages aufwachen, dann…“ Der Satz am Schluss des Romans „Die Vegetarierin“ bricht ab. Den Träumen, in die die Wirklichkeit treibt, entkommt man nicht so leicht.

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