Mammutprojekt der Nikolauspflege Einzigartige Schule – Licht, Farbe und Akustik geben Orientierung

Die Klassenräume sind sehr hell – gerade ist Deutschunterricht bei den Neunt- und Zehntklässlern. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Im Betty-Hirsch-Schulzentrum ist auch an kleinste Details gedacht worden, um den Schulalltag für blinde und sehbehinderte Schüler zu erleichtern. Was sagen diese selbst dazu?

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Für blinde und stark sehbehinderte Schülerinnen und Schüler ist eine neue Schule eine Herausforderung. Schließlich müssen sie alle Wege neu lernen. Aber das Betty-Hirsch-Schulzentrum macht es ihnen vergleichsweise leicht. Es wurde so gebaut und gestaltet, dass die Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen optimal bedient werden. „Davon profitieren alle“, sagt die bei der Nikolauspflege für die schulische Bildung zuständige Geschäftsbereichsleiterin Simone Zaiser – auch die Kinder ohne Beeinträchtigung, die hier ebenfalls zur Schule gehen.

 

Große Pause um kurz nach halb elf Uhr an einem Donnerstagvormittag. Draußen regnet es, deshalb tummeln sich viele Kinder und Jugendliche in der Aula. Einige spielen Tischkicker, andere sitzen ganz ruhig, den Blindenstock in beiden Händen, an der Seite und unterhalten sich. Auch Kinder im Rollstuhl fahren durch den barrierefreien, offenen Raum oder werden gefahren. Der Boden ist bewusst dunkel gehalten, als Kontrast zu Decke und Wänden. Was den blinden Schülern hilft: „Jede Seite hat einen anderen Klang“, erklärt Simone Zaiser. Die Glaswand der Aula werfe den Schall anders zurück als die holzverkleidete Front und diese anders als die Betonwand. Die Akustik dient also zur Orientierung. Als würden die Wände sprechen.

Fast 50 Millionen Euro hat Neubau gekostet

48,6 Millionen Euro hat der Neubau des Betty-Hirsch-Zentrums gekostet, der am 11. Oktober groß mit einem Schulfest gefeiert wird. Vor neun Jahren war die Entscheidung für den Entwurf des Architekturbüros Birk, Heilmeyer und Frenzel erfolgt, Ende April dieses Jahres konnte die Schule bezogen werden, die nun gleich zwei sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren an diesem Standort vereint: Beide haben den Förderschwerpunkt Sehen, eines der SBBZ auch die geistige Entwicklung.

Simone Zaiser ist froh über das neue Gebäude. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Beim Rundgang wird deutlich, wie durchdacht der fünfstöckige, barrierefreie Bau ist: Das geht bei den großen Fenstern der Klassenzimmer los, die so tief herunterreichen, dass auch Rollstuhlfahrer stets nach draußen blicken können. Die Fenster spenden viel Licht – wenn es zu viel ist, fährt die blickdichte, lochfreie Jalousie herunter. Lichtflecken könnten die sehbehinderten Schülerinnen und Schüler irritieren, so Zaiser.

Es wird viel auf Kontraste gesetzt zur Orientierung. Die schallgedämmte Turnhalle hat zum Beispiel einen schwarzen Boden, auf dem die wichtigsten Sportartenbegrenzungen hell leuchten. Wird geturnt, können die Lehrkräfte gelbe Matten auslegen, die sich gut abheben. Auch Licht wird bewusst eingesetzt. So sind an den Decken der Schulflure Leuchtlinien angebracht, die den Weg weisen. Die fünf Stockwerke sind alle farblich markiert. Wer weder Druckschrift noch Brailleschrift lesen kann, kann sich sogar über einen QR-Code vorlesen lassen, wo er ist und was sich auf dem Stockwerk befindet.

„Man kann sich gut orientieren“, sagt eine blinde Schülerin

Wie kommt die neue Schule bei den Schülern an? „Ich finde, man kann sich gut orientieren“, sagt die Neuntklässlerin Laura, die blind ist und sich mit dem Langstock im Gebäude bewegt. Ihr helfe, dass dieses rechtwinklig ist. Sie könne sich gut merken, wo sie ist. Auch Plamen, der ebenfalls blind ist, findet sich gut im Neubau zurecht, der weniger „verwinkelt“ sei als die Interimsschule in Feuerbach, aber größer. Als er kurz das Zimmer verlassen muss, nimmt er seinen Langstock gar nicht mit. Bleibt er auf der Etage, braucht er ihn nicht. „Hier kann man leichter andere Menschen kennen lernen, alles ist connected“, findet Plamen. Eine Aula gab es früher nicht.

Der 17-Jährige bereitet sich gerade auf seine Deutschprüfung vor. Sieben Schülerinnen und Schüler sitzen mit ihm im Klassenraum. Die eine Hälfte sind Neuntklässler, die dieses Schuljahr ihren Hauptschulabschluss absolvieren, die andere Hälfte macht wie Plamen den Realschulabschluss. Auffällig: Fast jeder Arbeitsplatz sieht anders aus. Anna sitzt vor einem Gerät, das ihren handgeschriebenen Text wie ein Overheadprojektor vergrößert. Benjamin hat seinen Rechner so eingestellt, dass er seine Aufgaben stark vergrößert sieht. Plamen wiederum nutzt eine Brailletastatur und trägt Kopfhörer. Alles, was er schreibt, wird vorgelesen – auch die Texte, die er bearbeiten muss. Die Geschwindigkeit der gesprochenen Wörter ist rasant, für Ungeübte nicht zu verstehen. Er erfasst trotzdem alles.

„Respekt“ nötigt das seinem Freund Julian ab, der neben ihm sitzt – vor einem normalen Bildschirm, weil er keine Beeinträchtigung hat. Die beiden machen zusammen ihre Mittlere Reife. Julian sagt, es sei „spannend“ mit sehbehinderten und blinden Schülern zu lernen. Der 16-Jährige wird im Anschluss eine Ausbildung beginnen. Bei der Deutschen Bahn will er Karriere machen. Seinem Freund Plamen trauen die Lehrkräfte das Abitur zu. Dafür müsste dieser aber aufs Internat nach Marburg wechseln – das einzige Gymnasium deutschlandweit für Blinde. So schön die neue Stuttgarter Schule ist – zur Hochschulreife führt sie weiterhin nicht.

Manche Schüler fahren eine Stunde zur Schule

Gebiet
Die Betty-Hirsch-Schule hat rund 240 Schülerinnen und Schüler zwischen sechs und 21 Jahren. Sie deckt ein großes Einzugsgebiet ab. Für mache betrage die Fahrtzeit bis zu eine Stunde, so Simone Zaiser von der Nikolauspflege. Es gibt deshalb auch ein schuleigenes Internat. Im SBBZ mit dem Förderschwerpunkt Sehen werden auch Kinder ohne Beeinträchtigung aufgenommen. Wie viele, hänge von der jeweiligen Klassenstärke ab, so Zaiser.

Fest
Am Samstag, 11. Oktober, feiert die Nikolauspflege die Einweihung des neuen Schulzentrums. Um 10 Uhr geht es los mit einem Gottesdienst in der Sporthalle, das Programm startet um 11 Uhr. Zwischen 12 und 16 Uhr werden Hausführungen angeboten. Auch Tanz und Theater werden unter anderem zu sehen sein. Eine Schulrallye mit Langstockparcours wird es ebenfalls geben.

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