Der Stuttgarter Ingenieurwissenschaftler Balthasar Novák hält Deutschlands Brücken nach wie vor für sehr sicher. Daran ändere auch der Einsturz der Dresdner Carolabrücke nichts. Wer hundertprozentige Sicherheit wolle, dürfe allerdings gar nicht erst eine Brücke bauen.
Zwischen der Feststellung von Mängeln an Brücken und der Reparatur vergehe oft zu viel Zeit, sagt der Bauexperte Balthasar Novák. Trotzdem sei ein Einsturz wie in Dresden in Deutschland sehr unwahrscheinlich.
Herr Novák, nur durch Glück ist beim Einsturz der Carolabrücke in Dresden niemand zu Schaden gekommen. Wie sicher sind unsere Brücken?
Der Einsturz hat auch mich überrascht. Die Probleme der Brücke waren zwar bekannt und die ersten zwei Teilbauwerke waren ja auch schon verstärkt worden. Bei dem Teil, der zusammengebrochen ist, hätten die Arbeiten demnächst beginnen sollen. Doch unglücklicherweise ist dieser Teil kurz vorher eingestürzt. Unter normalen Umständen ist der Einsturz einer Brücke in Deutschland ein sehr unwahrscheinliches Ereignis.
Trotzdem bleibt ein Restrisiko.
Richtig. Man kann nicht in alle Teile eines Bauwerks hineinschauen. Deshalb kann es in seltenen Fällen sein, dass es bei einer Brücke Mängel gibt, die sich nicht so einfach feststellen lassen. Natürlich gibt es Erfahrungswerte, bei älteren Bauwerken sind in der Regel die Problemzonen bekannt. Aber wenn wir überall hundertprozentige Sicherheit erreichen wollten, dürften wir gar keine Brücken bauen. Man geht bei solchen Bauwerken von einer Versagenswahrscheinlichkeit von eins zu einer Million innerhalb eines Jahres aus.
Die Carolabrücke erhielt bereits 2021 die Note „nicht ausreichend“. Hätte man sie da nicht gleich stilllegen müssen?
Ich habe das Bauwerk nicht nachgerechnet. Man muss aber wissen, dass die entsprechende Benotung von 3 bis 3,4 nicht automatisch bedeutet, dass akute Einsturzgefahr besteht. Sie kann auch bedeuten, dass das Bauwerk innerhalb einer bestimmten Zeit instandgesetzt werden muss.
Braucht es angesichts der wachsenden Zahl sanierungsbedürftiger Brücken strengere Kontrollen?
Wir haben schon ein ziemlich gutes System. Alle sechs Jahre gibt es eine umfassende Prüfung, alle drei Jahre eine Sichtprüfung sowie Prüfungen aus besonderem Anlass – wenn etwa ein konkreter Verdacht auf ein Problem besteht. Wir arbeiten auch an der Echtzeitüberwachung von Bauwerken mit Hilfe von Sensoren. Bis man das im größeren Maßstab einsetzen kann, ist aber noch einiges an Forschung nötig, an der wir fleißig dran sind. Doch auch mit so einem System kann man ein plötzliches Versagen wie in Dresden nicht unbedingt vorher erkennen.
Warum gibt es bei den Brücken in Deutschland so einen großen Sanierungsrückstand?
Der Schwerpunkt der Investitionen lag zu lange auf dem Neubau. Das hat mittlerweile auch die Politik erkannt. Das Problem ist aber nicht nur fehlendes Geld für die Instandhaltung. Selbst dort, wo die Finanzierung geklärt ist, dauert es oft zu lange, bis etwas passiert. Wir brauchen schnellere Planungs- und Genehmigungsprozesse. Wenn zwischen der Feststellung eines Mangels und der Sanierung Jahre vergehen, kann es irgendwann kritisch werden. Das hat man jetzt in Dresden gesehen. Ein weiteres Problem ist der Nachwuchsmangel in den Ingenieurwissenschaften.
Die Sanierung tausender Brücken wird unzählige Milliarden Euro kosten. Wo gibt es da Sparmöglichkeiten?
Allzu viele Möglichkeiten sehe ich da nicht. Jede Brücke ist ein Unikat. Wir können nicht eine Brücke anschauen und die Ergebnisse auf die nächsten fünf übertragen. Es gibt nicht nur Unterschiede im Aufbau oder bei den Materialien, sondern auch mit Blick auf den Standort oder die Verkehrsbelastung.
Der Stahl in Brücken ist anfällig für Korrosion. Gibt es Materialien, die hier weniger Probleme machen?
Kohlefasern wären eine denkbare Alternative. Sie sind aber spröder als Stahl und brechen daher leichter. Stahl ist fest und trotzdem elastisch mit plastischen Reserven. Das macht ihn im Brückenbau unschlagbar. Allerdings muss der Stahl ausreichend vor Korrosion geschützt werden. Das ist bei älteren Brücken nicht immer der Fall. Mitte der 1980er-Jahre wurden die entsprechenden Normen aber deutlich verschärft.
Lassen sich Brücken gleich von vorneherein so bauen, dass sie länger stabil bleiben?
Statt einen Fluss oder eine Straße ohne zusätzliche Unterstützung zu überspannen, kann man zwischen den beiden Enden zusätzliche Pfeiler aufstellen. So erhält man ein redundantes System – wie wenn man zusätzlich zum Gürtel auch noch Hosenträger trägt. Wenn dann irgendwo etwas nachgibt, können sich die Lasten anders verteilen und die Konstruktion bleibt länger stabil. Regelmäßige Bauwerksprüfungen muss es aber trotzdem geben.
Wie lange hält eine moderne Brücke?
Bei neuen Bauwerken, die nach europäischen Standards gebaut werden, gehen wir von einer Nutzungsdauer von 100 Jahren aus. Zudem plant man heute von Anfang an mit einer weiteren Zunahme der Belastung insbesondere durch den Schwerverkehr. Das Problem bei Brücken aus den 1960er- und 1970er-Jahren ist ja, dass damals keiner wusste, wie massiv der Verkehr zunehmen würde. Am Stuttgarter Kreuz hatten wir in den Sechzigern vielleicht gut 500 Lkw pro Tag. Heute sind es 25 000.
Brückensanierungen führen häufig zu monate- oder jahrelangen Umleitungen. Wie könnte es schneller gehen?
Je nach Situation ist auch eine Sanierung oder Verstärkung von Bauwerken im laufenden Betrieb möglich. Allerdings gibt es auch dann Arbeiten, für die man kurzfristig sperren muss. Man kann auch die Nutzungsdauer bestehender Brücken verlängern, indem man sie nur für den Schwerverkehr sperrt. Ein 40-Tonner belastet eine Brücke in Bezug auf Ermüdung so stark wie 100 000 Pkw.
Experte für Brücken
Position
Balthasar Novák (Jahrgang 1963) ist seit März 2000 Professor für Massivbau an der Universität Stuttgart.
Themen
In seiner Forschung beschäftigt sich Novák unter anderem mit der Planung und dem Erhalt von Brücken und anderen Bauwerken sowie der Erdbebensicherheit von Gebäuden. Er ist zudem beteiligt an der Weiterentwicklung der europäischen Regelungen im Brückenbau.