Die Mettinger Liebfrauenkirche wird saniert. Das Dach ist seit dem Unwetter 2021 ein Provisorium. Jetzt wird es mit denkmaltauglicher Photovoltaik bestückt. Für Dekan Weißenborn ein Beispiel, dass Solartechnik auch bei historischer Bausubstanz geht.

Eine nicht ganz ungewöhnliche Ironie der Baugeschichte, wie man sie von den Esslinger Brücken kennt: Die jüngsten Objekte brauchen als erste eine Sanierung. Ähnliches gilt für das Dach der historischen Liebfrauenkirche in Mettingen. Während Ziegel und Schiefer auf Chor und Turm mit punktuellen Ausbesserungen über die Jahrhunderte kamen, müssen die Betonfaserplatten, die erst seit 1974 das Schiff des evangelischen Gotteshauses decken, komplett ersetzt werden. Entfernt wurden sie teilweise schon im Sommer 2021, und zwar von einem Unwetter. Einige von ihnen flogen in benachbarte Balkone und Grundstücke, erzählt Gemeindepfarrer Peter Rohde. In die Kirche regnete es rein. Die Fresken an der Südwand waren gefährdet, dem einzigen original aus dem 15. Jahrhundert erhaltenen Bauteil des Kirchenschiffs. Die übrigen Wände samt Innenausstattung wurden bei der Renovierung und Erweiterung vor gut 50 Jahren abgerissen und neu gebaut. „Heute undenkbar“, sagt Florian Hartmann, Leiter der Bauabteilung in der evangelischen Regionalverwaltung Esslingen. Mit dem Denkmalschutz war man in den 70er Jahren so wenig zimperlich wie mit dem Baumaterial. Deshalb muss seit dem Unwetter ein provisorisch hergerichtetes Dach Kunst und Bausubstanz wahren, und selbst ohne Unwetter wären die Faserplatten mittlerweile fällig, erklärt Hartmann.

 

525 000 Euro, sagt Dekan Bernd Weißenborn, kostet die Maßnahme, welche die Dachsanierung praktischerweise mit einem Face Lifting der rissigen Außenwände verbindet, denn die Gerüste stehen ja sowieso. Im Sommer dieses Jahres soll alles fertig sein. Die Kosten trägt allein die evangelische Kirche, jeweils hälftig die Landeskirche und die Gesamtkirchengemeinde Esslingen als Besitzerin des Baudenkmals. Letztere hofft, durch Benefizaktionen, zum Beispiel Konzerte, ihren Anteil noch etwas reduzieren zu können. Zuschüsse vom Denkmalschutz gibt es nicht, dafür eine denkwürdige Zustimmung: nämlich zu Solarpaneelen unterm „Faifegrädler“, dem Mettinger Kirchturm, der so heißt, weil von seinen fünf Turmspitzen aus fast jeder Perspektive immer nur vier zu sehen sind, er also fünfe (altschwäbisch: „faife“) gerade sein lässt. Dass auch die Denkmalbehörde fünfe gerade sein lässt und der Kirche nicht aufs Solar-Dach steigt, ist angesichts der erregten Debatte um Photovoltaik in der Esslinger Altstadt bemerkenswert. Allerdings werden auf dem Mettinger Baudenkmal die neuartigen In-Dach-Module eingebaut, sagt Hartmann: schwarze, matte Platten, die optisch nicht unterscheidbar sind von den Blechen an den Dachrändern. Das Esslinger Architekturbüro Müller Benzing und Partner, das die Sanierung plant und leitet, gibt dem neuen Dach auf diese Weise das Aussehen einer dunklen, homogenen Fläche ohne Beeinträchtigung der Gesamtwirkung. Gerechnet wird mit einer Maximalleistung der Solaranlage von 18 Kilowattpeak. Damit könnten – bei durchschnittlichem Verbrauch – knapp fünf Einfamilienhäuser mit jeweils vier Bewohnern mit Strom versorgt werden.

Vor allem stellt sich die grundsätzliche Frage: Geht die Sonnenenergie nun auch über denkmalgeschützter Bausubstanz auf? Ein Durchbruch? Für Dekan Weißenborn wäre das ein beabsichtigter Effekt dieser umgekehrten Art von Kirchturmpolitik, die mit ihrer Solarausrichtung über Tellerränder hinausblickt. Nämlich „auf die Bewahrung der Schöpfung“, wie der Dekan sagt. „Mit der Photovoltaik an der Liebfrauenkirche“, fügt er hinzu, „setzen wir ein Zeichen, dass solche Anlagen auch an historischen Gebäuden möglich sind, ohne ihren Charakter zu beschädigen.“ Damit nimmt Weißenborn für die Kirche als Institution eine doppelte Perspektive in Anspruch: in die Vergangenheit und in die Zukunft. Bewahrung von „Identität und Historie“ steht auf der einen Seite. Sorge um das, was kommt, bildet den notwendigen Kontrapunkt. Der Mettinger Einsatz für Nachhaltigkeit am Kirchenbau will laut Weißenborn dazu einen kleinen, aber exemplarischen Beitrag leisten. Und was die Historie anbelangt, ist namentlich der Esslinger Gemeinde ein reicher Schatz an Bau- und weiterer Kunst anvertraut – ein Schatz, dessen Erhaltungskosten ihn in eine Last verwandeln, sagt der Dekan, legt aber zugleich ein Bekenntnis ab: „Wir bekommen die Kirchensteuer auch, um Kirchen zu erhalten.“ Zumal es in Esslingens historischen Preziosen nicht nur Historie, sondern immer noch „ein gutes Gemeindeleben“ gebe.

Ungleiche Schwestern

Liebfrauenkirche
 Der Mettinger Gemeindepfarrer Peter Rohde bezeichnet sie als „ungleiche Schwestern“: die Liebfrauenkirche im Stadtteil und die Frauenkirche im Esslinger Zentrum. Beide sind der Gottesmutter Maria geweiht, beide entstanden parallel und unter Mitwirkung der Baumeister-Dynastie Beblinger im 15. Jahrhundert (die Frauenkirche wurde schon um 1325 begonnen, die Bauzeit dauerte aber fast 200 Jahre). Die Liebfrauenkirche ist ein karger Zweckbau, dessen zuerst errichteter Chorturm vor allem eine Funktion hatte: Schutz zu bieten in den Städtekriegen gegen Stuttgart. Rohde redet sogar von einem „Hochbunker“: Die Wände gen Stuttgart sind verstärkt und mit Schießscharten versehen.

Frauenkirche
 Der Turm der Frauenkirche hingegen entstand zuletzt. Mit seinem filigranen Maßwerk hat er eine konträre Aufgabe: Wie ein Ausrufzeichen weist er auf das kunstreiche Gotteshaus und die Bürgerschaft, die sich in ihm repräsentierte.