Frank Dähling hat eine marode Mühle zum Bauernmuseum umgebaut. Besuch bei einem Mann, den einst die Hippiewelle in den Kraichgau spülte.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Eppingen - Ein großes Gittertor versperrt den Weg zur Mühle. Wer den Raußmüller besucht, findet keine Klingel. Im Hof liegt altes buckliges Kopfsteinpflaster, Gänse und Hühner picken aufgeweichtes Brot aus Blechschüsseln. Eben noch hat es geregnet und der Boden dampft, riecht nach Moos. Es ist frisch an diesem Frühlingstag. Vom Sumpf der Elsenzaue zieht die Feuchtigkeit in Schwaden wie Nebelgeister herauf. Der Raußmüller tritt auf.

 

Er hat sein langes, schlohweißes Haar zu einem Seitenscheitel frisiert, trägt eine Filzjacke und eine dreckige Jeans. Sein Gesicht bleibt hinter einem wilden Bart versteckt. „Kommen Sie herein“, sagt er und öffnet ein Vorhängeschloss. Was für ein Idyll! Das hört der Raußmüller nicht gern, er zieht die Stirn in Falten. Das Bauernleben ist hart. Früh muss er aufstehen, die Schafe und Ziegen versorgen. Er bringt die Herde nach hinten auf die Winterwiese. Auch die Gänse und Hühner und die Katzen wollen fressen. Im Hof erklärt der Raußmüller, das da sei sein Wohnhaus, er lebt darin seit 40 Jahren. Daneben die alte Mühle, gegenüber die Scheune, die ganz zusammengefallen war. Die Raußmühle bei Eppingen im Kraichgau wurde zum ersten Mal im Jahr 1334 erwähnt. Mitte des 18. Jahrhunderts, wurde der Wohntrakt barockisiert. Heute herrscht hier ein großer Geschichtenerzähler als Hausherr, ein Sammler. Er kann über die Vergangenheit dieses Anwesens so lange sprechen, bis es klamm wird im Hof.

Anfang der 70er Jahre, als der Raußmüller noch nicht der Raußmüller war, sondern Frank Dähling, ein Akademikersohn aus Pforzheim, geboren im vorletzten Kriegsjahr im Bombenkeller eines Krankenhauses, da war die Eppinger Mühle ein Schrottplatz. Der Hippie Frank Dähling presste sein Gesicht an die Gitterstäbe des Eisentors, schaute auf drei Schichten Autowracks im Hof. Darin hausten Kaninchen, aus den zerbrochenen Fenstern der alten Mauern wuchsen Brennnesseln. Das Anwesen war von Nato-Stacheldrahtzaun umgeben.

Die alte Mühle klappert nicht mehr

Frank Dähling beschloss, die Mühle zu pachten. Nach und nach entsorgte er den Schrott. Freunde kamen und gingen. Die Leute im Dorf sagten, diese Städter packen das nie. Den meisten der Hippies war das Leben in der Mühle zu hart. Nur Frank Dähling und seine Freundin Heidi blieben. Ende der 70er Jahre war der Wohntrakt noch baufällig. Eines Morgens legte Frank Dähling die Stones auf, und es regnete aus vier Löchern auf seinen Plattenspieler. Wutentbrannt setzte er sich ins Auto, fuhr zu den Erben des Hofs, seinen Vermietern. Entweder sie würden das jetzt richten – oder Heidi und er wären weg! Am Ende dieses Streits hielt er den Kaufvertrag für die Mühle in der Hand. Ein ordentlicher Kredit der Bank verwandelte den Hippie Frank Dähling in den Raußmüller. Und in der Geschichte der Mühle ist keiner der Müller so lange Herr gewesen auf dem Gehöft wie er jetzt schon.

Die alte Mühle klappert nicht mehr. Doch im Mahlraum entfaltet sich der Sinn des Raußmüllers für die große Erzählung. Er hat die Dinge zum Sprechen gebracht wie ein Magier, über Jahre hinweg suchte er zusammen, was in eine alte Mühle gehört, holte es ab in anderen Gehöften, Haushalten und kleinen Sammlungen, die aufgelöst wurden. Neben dem Mühlrad in einem kleinen Schrank liegen Spielkarten und Hirtenfeuer-Schnaps. Die Gesellen könnten sich hier eine Auszeit gönnen, wenn der Müller nur mal kurz zum Mittagsschlaf einnickt, hat sich der Raußmüller überlegt.

Das große alte Winkelzahnradgetriebe, ein sogenanntes Planetarium, steht still. In der Mitte: der Rüttelschuh, der Tanzbär, die Stelle, die aufeinanderklopft wie im Lied: „Es klappert die Mühle . . .“ Bei der ersten Reibung wird das Korn halb aufgerissen, bei der zweiten geviertelt. Dann fällt es in eine Rinne und erholt sich vom Schreck. Nur so lange, bis es vom nächsten Korn verdrängt wird. Am Schluss stürzt es aus dem Maul des Kleiekotzers. Eine sinnliche Reise. Die Geschichte der Mühlen sei die Geschichte der Menschheit, sagt der Raußmüller. So weit zurück reicht die Fertigkeit der Menschen, Korn zu mahlen, das eigene Überleben mit Getreide, Mehl, Brot zu sichern. Ohne Mühlen hätte die Menschheit nicht überlebt.

Zurück zur Natur!

An den Wänden hängen Bilder, Gemälde von Bauern, Schäfern, Mahlsteinen, ein großes Foto vom Dachsenfranz, einem Italiener, der 1880 in den Kraichgau kam, im Wald und in Höhlen lebte, Salben und Felle herstellte. Der Raußmüller ist fasziniert von ihm. An einem Deckenbalken hängt der Oberleib eines Vogels. Er schläft den ewigen Schlaf der Mumie. Wanderbücher von Gesellen liegen aus, der Lehrbrief eines Müllers auf Pergament von 1703, der zerbrochene Teller des Mühlknechts Joseph, gefunden im Bachbett – der Joseph hat halt gern mal ein Gläschen Most zu viel getrunken.

Und am Eingang behauptet eine Tafel: „Das Müllerleben hat Gott gegeben, aber das Mahlen in der Nacht hat der Teufel erdacht.“ Ein Spruch, den jeder Müller kennt, denn die Nacht ist gefährlich, im Dunkeln sitzen andere Augen in den Gesichtern, die Dinge bekommen ein Eigenleben. „In der Mühle spukt es“, sagt der Raußmüller. Auch er habe schon Schritte gehört. Früher sagte man, dienstags und freitags um Mitternacht geht ein Geist um in dem alten Gehöft. Im kleinen Zimmer des Wohnhauses, ganz oben, kann man ihn treffen. Er kommt, langsam und laut über die Stiegen – tripp, trapp, tripp, trapp. Sein weißköpfiges Antlitz lässt Menschen bis tief in Mark und Bein erschauern. Scheren fliegen durch die Luft, wo immer er geht, ein beißend heller Lichtschein blendet die Lebenden.

Jetzt klopft es an der Tür. Der Raußmüller hat einen Gast. Es ist ein schicker Mann in schmalen Schuhen, in seiner Hand eine edle Flasche Wein. Ein Freund und Bildhauer aus Prag. Umarmungen. „Er hasst Kommunisten wie mich“, sagt Frank Dähling und lacht. Seine politische Zeit hat der Raußmüller lange hinter sich, die wilden Jahre 1967 und 1968. Damals hat er miterlebt, wie die Welt sich befreite, hat Philosophie und Ethnologie studiert, seine Ehe ging in die Brüche, er trampte 5000 Kilometer durch Europa, sah seine Revolution scheitern, die Maoisten-Freunde radikal werden. Er fragte sich: Was fange ich mit dem angebrochenen Leben an? Dann wollte Frank Dähling Bauer werden, etwas mit dem Kopf und den Händen schaffen. Ein Bauer sollte an der Spitze eines jeden Staates stehen, sagte er sich. Der junge Hippie las Rousseau: Zurück zur Natur!

Ein Grüner durch und durch

Heute haben sich seine politischen Mühen in handfeste ökologische verwandelt. Der Raußmüller ist im Dorf bekannt, hat sich für die Grünen um einen Sitz im Eppinger Gemeinderat beworben. Rund um die Mühle hat er Hunderte Bäume gepflanzt, seltene Vogelarten haben sich angesiedelt, Kräuter wachsen in den Gärten der Raußmühle.

Schon seit seiner Studienzeit sammelt Frank Dähling Gegenstände des bäuerlichen Alltags. In der Scheune hat er seit einigen Jahren das „Archiv für die Geschichte des ländlichen Lebens“ aufgebaut. An die 1000 Mausefallen findet man dort, manche davon 500 Jahre alt. Früher hat Frank Dähling als Antiquitätenhändler gearbeitet, um sich diese Schätze leisten zu können.

Das Archiv ist heute prall gefüllt. Hier lagern 120 Maltersäcke, in denen einst das Korn zur Mühle getragen wurde. Wundersame Zeichen und Namen in schön geschwungener Schrift sind auf die Säcke gedruckt. Die Besitzer markierten so ihr Getreide und Eigentum. Der Raußmüller zeigt in die Folterecke: Halsgeigen, Fußfesseln, Daumenschrauben. Daneben in Formaldehyd eingelegte Ratten und Schlangen, mumifizierte Katzen, die als Bauopfer lebendig unter Schwellen und Herdplätzen eingemauert waren, Zauber- und Himmelsbriefe, Zöpfe und Neidköpfe. Sie alle sind Zeugen einer vergangenen Zeit, eines ehrfürchtigen Blicks in eine immer ungewisse Zukunft.

Nichts verklären, nur bewahren

Das Dunkle und Unberechenbare, die Natur, sind Teil des ländlichen Lebens. Wer sollte das besser wissen als ein Bauer? Der Raußmüller sagt, er wolle nichts verklären, nur bewahren. Alles hier entspreche dem Versuch, ein winziges Stück Erde aus dem Kampf gegen die Natur herauszuhalten.

Die Natur will niemand zum Gegner haben. Das weiß, wer täglich von ihr abhängt. Und der Mensch ist wie die Kuh und die Weizenfrucht ein Teil des Kreislaufs, muss sich fortpflanzen, ernähren, wird geboren, stirbt. Fruchtbarkeitsmotive, eingeritzt auf Dachziegeln, sollten den Familien Wachstum bescheren, etliche sind im Archiv ausgestellt. Nebenan im Regal liegt ein Verlobungsring, auf dem zwei winzige Hände die Merkel-Raute bilden, eigentlich ein Symbol für die Vulva, sagt der Raußmüller, das bedeuten sollte: Ich möchte mich dir ganz geben. Berührreliquien, die Phallusnase eines normannischen Schamanen oder eine vollbusige Fruchtbarkeitsstele von einem Acker, sie alle beschreiben die Hingabe des Menschen an die Natur.

Brandanschläge auf die Scheune

Der Raußmüller schließt die dicke Tür, tippt einen Code in ein piepsendes Gerät, eine Alarmanlage. Auch die moderne Welt und die Menschen bedrohen seine Schätze. Drei Brandanschläge auf die Scheune hat es schon gegeben. Warum, das weiß niemand.

Und dann, gerade als der Raußmüller zum nächsten Schritt in den Hof ansetzt, zischt ein Windhauch über die Dächer. Die Gänse schnattern, immer lauter. Plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, springt ein Fuchs direkt am Zaun vorbei. Er prescht in den Hühnerhaufen, reißt den Hahn. „Heeee!“, ruft der Raußmüller. Schnell hat der Tumult sich im nächsten Gebüsch verloren. Wo ist der Hahn? Der Raußmüller geht zur Haustür, lässt den Berner Sennenhund heraus, treibt die aufgescheuchten Hühner in den Hof. „Am hellichten Tag!“ Am Fenster taucht ein roter Haarschopf auf. Auch Heidi ist vom Geschnatter aufgescheucht worden, der Fuchs längst wieder über alle Berge. Die Luft steht still im Hof. Der Hahn ist weg. Vielleicht habe er sich für seine Hühner geopfert, sagt der Raußmüller, den Tieren traue er alles zu.