Radfahren in Stuttgart Mehr Radwege – mehr Radfahrer?
Tausende Radfahrer passieren am Tag die städtischen Zählstellen. Unsere Datenanalyse zeigt, wo Stuttgart fahrradfreundlicher wird – und wie schleppend sich der Radverkehr entwickelt.
Tausende Radfahrer passieren am Tag die städtischen Zählstellen. Unsere Datenanalyse zeigt, wo Stuttgart fahrradfreundlicher wird – und wie schleppend sich der Radverkehr entwickelt.
Die grüne Zahl an der Säule auf der König-Karls-Brücke über den Neckar tickt jedes Mal nach oben, sobald jemand auf dem Rad vorbeifährt – und zeigt, wie viele Menschen an diesem Tag bereits vorbeigefahren sind. Es ist eine von 15 Stellen in Stuttgart, an der Radfahrende gezählt werden, mit durchschnittlich mehr als 2600 am Tag die meistfrequentierte. Unsere Redaktion hat die Daten aller 15 Zählstellen ausgewertet.
Daten über mehr als zehn Jahre existieren nur an zwei Zählstellen: an der König-Karls-Brücke und der Böblinger Straße in Kaltental. An der zweiten kommt vorbei, wer zwischen Vaihingen und Süd unterwegs ist. Seit 2014 hat sich dort die Zahl der Radfahrenden pro Tag fast verdoppelt, 2024 waren es mehr als 1200 in beiden Richtungen. Seit 2022 gibt es auf einem Abschnitt abgetrennte Radstreifen. Der Versuch, der nun verstetigt werden soll, gilt als Beispiel, dass bessere Wege auch zu mehr Radfahrenden führen: In der Böblinger Straße sind nun pro Tag mehr Radfahrende unterwegs als 2020. Die Zählstelle ist bisher die einzige, die ihr Pandemie-Hoch übertroffen hat.
„Es ist beachtlich, dass sich die Zahlen auf dem Niveau, auf dem sie schon waren, stetig weiter verbessern“, sagt Reinhard Otter vom Zweirat Stuttgart. „Zumal man auf der Böblinger Straße von Heslach nach Vaihingen etwa 150 Höhenmeter zurücklegen muss.“ Die Zweirat-Mitglieder führen das maßgeblich auf den neuen Radweg zurück. Früher habe man bergab wegen der Parkplätze zweimal auf die Autospur ausscheren müssen. Das ist mittlerweile nicht mehr nötig. „Dadurch ist die gefühlte Sicherheit auf der Strecke deutlich höher“, sagt Otter.
Auch die Stadt konstatiert eine höhere gefühlte Sicherheit: „Wir sehen, dass die Strecke zunehmend das ganze Jahr über befahren wird“, sagt Fabian Sachmann vom Amt für Stadtplanung und Wohnen – also auch in der dunklen Jahreszeit.
Bei der Stadt nutzt man die Zählstellen, um rückwirkend zu analysieren, ob neue Radwege tatsächlich den Verkehr steigern oder zu welchen Tages- und Jahreszeiten die Menschen unterwegs sind. Die meisten Zählstellen stehen an Hauptradrouten, die bis 2030 das Netz vervollständigen sollen. Doch die Messungen hängen oft noch von anderen Faktoren ab.
An mehreren Zählstellen sind die Zahlen 2024 gesunken. Oft liegt es an Baustellen, an der König-Karls-Brücke wurde dabei die Zählstelle verlegt. Wer von der Brücke zum Rosensteinsteg oder der Uferstraße fährt, verpasst aktuell die Zählschleife im Boden und wird nicht gezählt, umgekehrt ebenso. Das Tiefbauamt erklärt, mit der finalen Verkehrsführung würden auch wieder alle Radfahrenden erfasst.
Generell hat sich die Zahl der Wege, die die Stuttgarter wöchentlich zurücklegen, seit 2017 reduziert – womöglich wegen mehr Homeoffice. Dennoch: Insbesondere der Alltagsverkehr steige an „praktisch allen“ Zählstellen an, betont Sachmann.
Die meisten Zählstellen messen unter der Woche viel mehr Menschen als am Wochenende – ein Hinweis darauf, dass Freizeitradeln in Stuttgart weiterhin eine kleinere Rolle spielt. Der Fahrradanteil am Freizeitverkehr hat laut der letzten „Mobilität in Deutschland“-Umfrage sogar nachgelassen.
Eine der wenigen Ausnahmen ist die Neckartalstraße in Münster. Zumindest zeigen die Zahlen von 2022 mehr Verkehr am Wochenende, in den folgenden Jahren waren die Zählung wegen der Baustelle für ein neues EnBW-Kraftwerk nicht vergleichbar.
Deutlich typischer für den Pendlerverkehr ist die Entwicklung an der Böblinger Straße in Kaltental: Hier sind unter der Woche sehr deutliche Spitzen morgens und nachmittags zu erkennen. In diesen Stunden ist der Verkehr im Lauf der Jahre deutlich stärker angestiegen als zu anderen Uhrzeiten.
„In Stuttgart ist es ganz stark ein Alltagsverkehr zu Ausbildung, zur Schule, zur Arbeit,“ sagt Marietta Wortmann, wie Sachmann im Amt für Stadtplanung für strategische Verkehrsplanung zuständig. Das sei auch eines der Hauptziele des Netzausbaus.
Bis 2030 soll eigentlich jede vierte Fahrt in Stuttgart mit dem Rad zurückgelegt werden – so das im Radentscheid 2019 festgelegte Ziel. Doch dafür geht es bisher zu schleppend voran. Laut „Mobilität in Deutschland“ ist der Radfahranteil in Stuttgart von 2017 bis 2023 nur sehr langsam angestiegen, von acht auf neun Prozent. In der jährlichen Mobilitätsbefragung der SSB ist der Radfahranteil von 2023 bis 2024 sogar leicht zurückgegangen, von zwölf auf elf Prozent.
Klar ist jedenfalls: Der Radfahranteil müsste sich mehr als verdoppeln, um das Ziel bis 2030 zu erreichen. Die Stadt betont zwar, die Zählstellen bildeten nicht den gesamten Radverkehr ab: „Es werden auch Radwege ausgebaut, wo keine Zählstellen stehen, deswegen ist es schwierig, von den Zählstellen auf eine Gesamtzahl zu schließen“, sagt Wortmann. Konkrete Ziele für einzelne Zählstellen leitet die Stadt aus dem Gesamtziel nicht ab.
Doch weder in Umfragen noch an den Zählstellen zeichnet sich ein steiler Fahrradboom ab – selbst an der Böblinger Straße, wo die Entwicklung laut Stadtverwaltung wie Radaktivisten als vorbildlich gilt. Wächst der Radverkehr dort im selben Tempo weiter, würde er sich bis 2030 eher veranderthalbfachen als verdoppeln. Sprunghaft angestiegen ist der Radverkehr am ehesten noch in der Lautenschlagerstraße, die seit 2023 teilweise autofrei ist. Um den Radverkehr in der Fläche deutlich zu steigern, halten Kritiker wie Zweirat oder das Linksbündnis im Gemeinderat die Infrastruktur noch nicht für ausreichend.
Ob künftig neue Zählstellen hinzukommen, darauf will sich die Stadt noch nicht festlegen, sondern verweist auf das Radverkehrskonzept der Stadt, das fortgeschrieben werden soll. Zählstellen kosten zwar Geld, liefern aber Erkenntnisse für einzelne Strecken und machen Werbung fürs Radfahren. Die SSB-Befragung hingegen nutzt die Stadt laut Klimamobilitätsplan nicht als Messlatte für den Radverkehr. Das für die Verwaltung entscheidende Maß, wie stark der Radverkehr in Stuttgart wächst, dürfte also bis 2030 auf sich warten lassen: Erst dann ist mit neuen „Mobilität in Deutschland“-Zahlen zum Radfahranteil zu rechnen – also dann, wenn die Investitionen in die Radinfrastruktur bereits ihre Wirkung entfaltet haben sollen.