Selbstständig Lernen steht in der Kritik. Eine Rückkehr zu alten Methoden ist aber auch keine Lösung. Es geht auch um die Lust der Kinder am Formulieren.

Leben: Ricarda Stiller (rst)

Stuttgart - Alarmiert durch eine „Spiegel“-Titelgeschichte im Sommer dieses Jahres verfolgen besorgte Eltern von Erstklässlern nun Buchstabe für Buchstabe den Schriftspracherwerb ihrer Sprösslinge. Auf Elternabenden werden die Lehrer neuerdings häufiger mit Kritik an der Methode des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen und dessen sogenannter Anlauttabelle konfrontiert – obwohl das Konzept „Lesen durch Schreiben“ bereits aus den 70er Jahren stammt und vermutlich kaum noch in Reinform Anwendung findet.

 

Schon bei dem Gedanken, dass Kinder schreiben dürfen, wie sie wollen, stehen vielen Eltern die Haare zu Berge: Wenn Kinder bis zum Ende der zweiten Grundschulklasse alles falsch schreiben dürfen und Fehler erst von der dritten Klasse an korrigiert werden, könnten sich dauerhaft Fehler einschleichen. Möglicherweise verfahren einige wenige Lehrkräfte tatsächlich so. Überwiegend jedoch kombinieren Grundschullehrer verschiedene Methoden und entwickeln mit der Zeit einen Unterricht, in dem sie die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen.

Erneut angeheizt wurde die Debatte durch einen Beitrag des Germanistikprofessors Wolfgang Steinig der Universität Siegen. Er hat kürzlich ebenfalls im „Spiegel“ den Bildungsnotstand ausgerufen. In seinem Artikel schreibt er: „So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Unsere Schrift sollte von Anfang an so vermittelt werden, wie sie tatsächlich funktioniert.“ Nicht nach dem Prinzip „ein Laut – ein Buchstabe“, sondern nach regelhaften Mustern.

Die deutsche Rechtschreibung ist in der Tat hochgradig reguliert: Etwa 95 Prozent der Wörter kann man aus Regeln ableiten. Die Lehrer entscheiden oftmals selbst, wie und zu welchem Zeitpunkt sie diese den Kindern beibringen.

Stefan Jeuk, Professor und Leiter des Sprachdidaktischen Zentrums an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg, versucht, die Sache so neutral wie möglich zu betrachten. Wissenschaft, sagt er, sei nicht immer frei von Emotionen und Eitelkeiten. Er selbst versuche, nicht einer bestimmten Schule anzugehören, sondern die Vor- und Nachteile der Ansätze zu vergleichen. So hält er es auch in seinen Publikationen. In dem Buch „Schriftsprache erwerben“, das er gemeinsam mit dem Kollegen Joachim Schäfer verfasst hat, werden didaktische Modelle und Methoden für den Unterricht dargestellt sowie deren Vorzüge und Nachteile erläutert.

Jeuk sagt: „Schriftspracherwerb ist ein sehr komplexer Vorgang. Neben kognitiven Voraussetzungen und Vorerfahrungen spielen Dinge wie Lust, Motivation, Freude und Interesse eine Rolle.“ Es gebe inzwischen einige Studien zum Thema Schriftspracherwerb. Alle kämen im Grunde zu dem Ergebnis, dass keine Methode die Führung beanspruchen kann. Kein Konzept könne guten Unterricht oder erfolgreichen Schriftspracherwerb garantieren. Es komme neben der Methode vor allem auf den Lehrer und die Rahmenbedingungen an. Lehrer müssten, so Jeuk, „die Struktur und Regelhaftigkeit der Schrift“ den Kindern ihrem aktuellen Wissensstand entsprechend vermitteln. „Nach meiner Erfahrung unterrichten Lehrkräfte in den seltensten Fällen ausschließlich nach einer Methode.“

Jeuk selbst hat als Lehrer mit der Reichen-Methode und dessen Anlauttabelle angefangen, diese dann aber an einigen Stellen verändert. Für ihn war es „eine Befreiung nach dem lehrerzentrierten Unterricht“. Mit dem neuen Werkstattunterricht konnte er den Kindern ein Angebot machen. Das sei auch deshalb so wichtig, weil es in einer ersten Klasse eine enorme Bandbreite kognitiver Entwicklungsstände gebe – man spricht von bis zu zwei Jahren Unterschied. Somit sei schon die Idee, mit allen genau das Gleiche zu machen, problematisch. Diese Unterschiede würden sich im Laufe der ersten beiden Schuljahre jedoch teilweise nivellieren.

Anlauttabellen gibt es seit dem 17. Jahrhundert

Die in die Kritik geratene Anlauttabelle, die bereits im 17. Jahrhundert existierte, eignet sich nur für das sogenannte alphabetische Schreiben. Erste Schreibversuche nach Gehör lassen sich durchaus bewerkstelligen, doch die Rechtschreibung mit all ihren Regeln lässt sich damit nicht erlernen. Die Lust der Kinder am eigenen Formulieren soll Studien zufolge damit gestiegen sein. Schon in den ersten Klassen schreiben sie jetzt eigene Texte, die unmittelbar mit ihrer Lebenswelt zu tun haben.

Anlauttabellen basieren auf dem Prinzip der Grafem-Fonem-Korrespondenz. Hierbei wird jeder Buchstabe durch ein Bild repräsentiert. Dieses Bild muss einen Begriff darstellen, der genau mit dem Laut beginnt, dem der Buchstabe entspricht. So suchen sich die Kinder anfangs Laut für Laut ihre Wörter zusammen.

Foto: Repro StZ

Dass beim Schreiben nach Gehör Fehler zunächst nicht korrigiert werden, sehen die meisten Pädagogen gelassen. Fragt ein Schüler ausdrücklich, ob etwas richtig geschrieben sei, wird kaum ein Lehrer ein falsch geschriebenes Wort loben, sondern die korrekte Schreibweise erklären. Ist ein Kind hingegen stolz darauf, etwas geschrieben zu haben, wird die Lehrkraft nicht mit dem Rotstift kommen und die Motivation sofort wieder zerstören.

Schreibt ein Kind in der ersten Klasse also „Farat“ für Fahrrad, so ist dies nach der Anlauttabelle erst einmal in Ordnung. Der Sprachdidaktiker Hans Brügelmann, der ebenfalls in die Kritik geraten ist, weil sein Konzept des Spracherfahrungsansatzes auf der Reichen-Methode aufbaut, sagt selbst, dass „Lesen durch Schreiben“ in Reinform ein Fehler sei. Entscheidend ist, dass korrigierend eingegriffen wird, bevor sich Fehler verfestigen. Wird ein Wort immer wieder in unterschiedlicher Weise falsch geschrieben, besteht noch keine Gefahr. Wird es jedoch immer auf die gleiche Art falsch geschrieben, kann sich das verfestigen.

Eine Möglichkeit, einem Kind klarzumachen, dass zwar einerseits schon ganz toll ist, was es schreibt, damit das Ziel aber noch nicht erreicht ist, weil noch nicht jeder dies lesen kann, ist, zwischen sogenannter Kinderschrift und Erwachsenenschrift zu differenzieren. Der Lehrer kann somit etwas loben, was zwar falsch ist, aber gleichzeitig vermitteln, dass es noch etwas zu lernen gibt – nämlich die Erwachsenenschrift, die alle lesen können.

Zwei Methoden zum Lehren der Schriftsprache

Methodenstreit

Ende des 20. Jahrhunderts stritten sich Didaktiker über die Vor- und Nachteile zweier grundlegend verschiedener Methoden. Der Sprachdidaktiker Hans Brügelmann stellte damals fest, dass keine Methode die einzig wahre sei, sondern nur eine Kombination sinnvoll. Die Anlauttabelle wird heute fast immer eingesetzt, auch wenn Methoden gemischt werden.

Synthetische Methode

Diese Methode baut auf der Anlauttabelle auf. Zunächst werden aus Lauten und Buchstaben, später dann aus Silben Wörter zusammengesetzt (Synthese). Am Ende sind die Schüler in der Lage, das ganze Wort und seine Bedeutung und schließlich auch ganze Sätze zu erfassen. Als Ausgangspunkt dient jedoch immer der einzelne Laut.

Ganzwort-Methode

Bis weit in die 1970er Jahre hinein sind Grundschüler vor allem nach der analytischen Methode unterrichtet worden. Dabei wurden den Kindern ganze Wörter oder kurze Sätze vorgesetzt – meist aus den sogenannten Fibeln. Diese Wörter und Sätze wurden so lange geübt, bis sie sich eingeprägt hatten. Oftmals wurde einfach nur auswendig gelernt.