Vor 20 Jahren ist Lothar mit voller Wucht über den Südwesten gefegt, nie zuvor und nie danach sind hier höhere Windstärken gemessen worden. Für Forstminister Peter Hauk ist Lothar eine Zäsur, und zwar eine mit durchaus auch positiven Folgen.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Ruhestein/Schwarzwald - Irgendwann an jenem Zweiten Weihnachtsfeiertag 1999 fiel auf dem Feldberg der Strom aus – bis dahin waren an der Wetterstation Orkanböen mit 212 Kilometern pro Stunde gemessen worden. 272 km/h sollten es zuletzt gar auf dem Hohentwiel bei Singen werden. Unvorstellbar war das bis dahin gewesen. Lothar rauschte wie ein Heer wilder Furien über den Südwesten hinweg, ließ Betonziegel wie Federn durch die Luft segeln und zerstörte Stromleitungen, auf Straßen und auf Schienen war kaum noch ein Durchkommen, es brachen Abermillionen von Fichten und Tannen entzwei. „Ich habe noch nie eine solche Gewalt erlebt“, sagt Charly Ebel, der damals im Naturschutzzentrum auf dem Ruhestein im Schwarzwald arbeitete, heute der Nationalparkverwaltung angehört und ab dem Jahr 2000 den „Lotharpfad“ angelegt hat: „Man fühlte sich dieser Naturgewalt ohnmächtig ausgeliefert“, erinnert er sich.

 

Binnen Minuten, denn der Jahrhundertsturm dauerte in der Spitze gerade eine Viertelstunde, wurde Wald in der Größenordnung von 56 000 Fußballfeldern vernichtet; vor allem der Schwarzwald war betroffen, aber auch der Schönbuch, der Rammert und die Ostalb. Drei Mal so viel Holz wie sonst in einem ganzen Jahr fiel an, der Preis stürzte für Fichten um 45 Prozent ab, der Landesbetrieb ForstBW machte im Folgejahr ein Minus von 149 Euro pro Hektar, während es 1999 noch 85 Euro im Plus gewesen waren. Mehr als 150 Millionen Euro an Fördergeldern hat das Land bewilligt, um private und kommunale Waldbesitzer vor dem größten Schaden zu bewahren. Die Bilder von den riesigen Holzlagern, die über Monate hinweg mit Wasser besprengt wurden, sind vielen noch gut in Erinnerung.

Gesamtschaden lag bei 11,5 Milliarden Euro

Der Orkan Lothar war damals auch für die SV-Versicherung, die ja besonders viele Kunden im Südwesten hat, der größte Schadensfall ihrer Geschichte. 500 Millionen Euro wurden damals an Haus- und Autobesitzer ausbezahlt. Allerdings löste dann am 28. Juli 2013 das gewaltige Hagelunwetter in Baden-Württemberg mit dem Zentrum um Reutlingen Lothar ab, 600 Millionen Euro an Schadenssummen wurden registriert. Insgesamt wird der volkswirtschaftliche Schaden durch Lothar auf 11,5 Milliarden Euro beziffert.

Man findet unterschiedliche Zahlen, wie viele Menschen der Orkan Lothar das Leben kostete, zwischen neun und 18 waren es in Baden-Württemberg, 110 in ganz Europa. Manche sagen, zum Glück kam der Orkan nicht erst am Nachmittag, wenn viele nach einem üppigem Weihnachtsessen einen Waldspaziergang gemacht hätten. Nie wieder seither hat ein Sturm den Südwesten so schwer getroffen wie damals, und jeder kann eine Geschichte erzählen, wie Besuche abgesagt wurden, wie man auf einem Bahnhof feststeckte oder wie man verzweifelt versuchte, das abgedeckte Dach zu sichern. Lothar war als Kindername schon wenig verbreitet, seither ist er wohl ganz ausgestorben.

Auf dem Lotharpfad darf sich die Natur ungestört entwickeln

Charly Ebel (55) kann jedoch mit Begriffen wie Jahrhundertsturm oder Katastrophe nichts anfangen. Er spricht lieber völlig neutral von einem „Ereignis“. Denn erstens seien bei aller Dramatik lediglich drei Prozent der Waldfläche in Baden-Württemberg vernichtet worden. Und zweitens finde die Natur immer einen Weg, um neu anzufangen. Ebel kann da beinahe philosophisch werden, wenn er von Gewinnern und Verlierern und vom Stirb und werde spricht.

Nach dem Orkan kamen viele Schulklassen und Touristen hinauf zur Schwarzwaldhochstraße, um sich über die Schäden zu informieren. Mit der Zeit reifte deshalb der Plan, eine zehn Hektar große Fläche zwischen Ruhestein und Kniebis ganz sich selbst zu überlassen – Charly Ebel hat daran maßgeblichen Anteil. Bis zu 100 000 Menschen besuchen jedes Jahr den knapp einen Kilometer langen „Lotharpfad“; man wandert zwischen vermodernden Fichten, großen Wurzeltellern und mittlerweile wieder fünf Meter hohen Bäumen hindurch und kann selbst erleben, dass das Leben niemals endet. Und der Pfad ist auch eine Lektion in Bescheidenheit, denn Ebel und seine Kollegen haben eines gelernt: „Es ist nicht möglich, Prognosen zu geben. Wir wissen nicht, wie sich alles entwickeln wird.“

Waldumbau hat sich durch Orkan stark beschleunigt

So hatten viele Buchen den Orkan überlebt, und alle glaubten, sie könnten sich nun ohne die Konkurrenz der Fichten prächtig entwickeln – in Wirklichkeit gingen fast alle im nächsten Jahr an Sonnenbrand ein. Dafür wuchsen plötzlich Ebereschen, die nie zuvor an diesem Standort beobachtet worden waren – Vögel liebten die Freiflächen und hinterließen mit ihrem Kot auch die Samen der Ebereschen. Bis zu 400 Pilzarten sind mittlerweile auf der Wurffläche gezählt worden, seltene Vögel wie der Wendehals brüten plötzlich da. „Man muss Geduld haben und Vertrauen, dass es den Wald weiter geben wird“, sagt Charly Ebel, auch in Hinblick auf den Klimawandel.

Die Forstwirtschaft war allerdings nach Lothar nicht ganz so entspannt wie Charly Ebel. Wirtschaftliche Ziele, Naturschutz und die Funktion als Naherholungsgebiet waren auf weiten Flächen bedroht. Für Forstminister Peter Hauk (CDU) ist Lothar deshalb eine Zäsur, aber man habe die Veränderung gut bewältigt. „Von den Kahlflächen ist heute nichts mehr zu sehen“, sagt er: „Das ist das Verdienst unserer Waldbesitzer und Forstleute, die in einem unermüdlichen Kraftakt die Flächen von Schadhölzern geräumt und dafür gesorgt haben, dass dort heute praktisch durchweg standortsangepasste und naturnahe Mischwälder wachsen.“

Tatsächlich sehen Peter Hauk und viele andere Experten sogar ein Gutes im Schlechten: Durch Lothar habe sich der Waldumbau im Land stark beschleunigt. Auf den Kahlflächen wüchsen viel mehr Laubbäume als früher – das helfe dem Wald jetzt in Zeiten des Klimawandels, sagt der Minister. Auch der Nadelholzanteil sei stärker mit Tannen und Douglasien durchsetzt. Vor Lothar lag der Anteil der Fichte an allen Baumarten insgesamt in Baden-Württemberg bei 45 Prozent; heute sind es 34 Prozent. Das Nadelholz machte 65 Prozent aus, jetzt sind es noch 53 Prozent. Dieser Waldumbau ist nicht allein Lothars Verdienst. Aber ein wenig schon.