Smadar Goshens Performance-Walk „Passing“ Steine und Tränen auf den Spuren der deportierten Urgroßmutter

Ziel des Performance-Walks „Passing“ ist das Mahnmal „Zeichen der Erinnerung“. Foto: Smadar Goshen/SG

An zwei Tagen machte Smadar Goshen die Spuren ihrer jüdischen Uroma in Stuttgart sichtbar. Die Performance „Passing“ dauert so lang wie eine Schulstunde und könnte auch bei jungen Menschen bleibende Eindrücke hinterlassen.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Es ist viel die Rede von Spaltung und den Gräben, die unsere Gesellschaft durchziehen. Auf der einen Seite stehen zum Beispiel einzelne, die gern hätten, dass die NS-Zeit „nur ein Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte sei. Auf der anderen Seite stehen die vielen, die sich bis heute fragen, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen ihre Nachbarn in den Tod schickten.

 

Einfache Antworten bietet die Performance „Passing“ keine. Doch die israelische Choreografin Smadar Goshen, die seit vier Jahren in Stuttgart lebt, hat bei ihrem Spaziergang Ende Juli so eindrücklich Fäden aus der NS-Zeit in die Gegenwart gesponnen, dass man ihm unbedingt eine Neuauflage und ein größeres Publikum wünscht.

Ausgangspunkt ist der Zug, der am 1. Dezember 1941 mit den ersten Deportationsopfern vom Stuttgarter Nordbahnhof abfuhr, Riga war sein Ziel. Unter den rund 1000 Jüdinnen und Juden war Smadar Goshens Uroma Paula Kahn, ihre Spur verliert sich wie die vieler in einem Massengrab, erschossen und verscharrt von einem NS-Sonderkommando.

Paula Kahns Name am Mahnmal „Zeichen der Erinnerung“ Foto: stzn/ak

An ihr Schicksal erinnert ein Name auf der Wand des Mahnmals „Zeichen der Erinnerung“ – und nun auch die Performance der Urenkelin, die ein Zufall nach Stuttgart brachte. Ein Zufall war es auch, der Smadar Goshen den Namen ihrer Urgroßmutter an der Mahnmalwand entdecken ließ.

„Passing“ heißt die Performance treffend. Sie begleitet mit einer Audio-Lesung sowie sechs Tänzerinnen und Tänzern Paula Kahn auf ihrem letzten Weg durch Stuttgart. Sie führt vom Leben in den Tod und zurück zu den Lebenden. Und sie schlägt Brücken: über die Lücken und Löcher, die eine abrupt abbrechende Biografie zwangsweise hinterlässt, über die Gräben, die sich zwischen Zeiten und Menschen auftun.

Fügt Zeitlinien zu einem filigranen Fetzen Erinnerungs-Stoff: Szene aus „Passing“ Foto: stzn/ak

Vier Mal ging Smadar Goshen und ihr Team, beginnend hinter der Kirche St. Georg, Ende Juli den Weg über den Pragfriedhof bis zu den Gleisen, über die ihre Urgroßmutter in den Tod reiste. Unterwegs taucht man ein in die Biografien anderer Kahns, die ebenfalls Opfer der Nazis wurden. Ein Fabrikant, der Smadar Goshen an den eigenen fürsorglichen Großvater erinnert, zwei Frauen, die vielleicht, so der Trost der Zurückgebliebenen, mit Paula Kahn auf der letzten Reise eine Schicksalsgemeinschaft bildeten.

Szene aus „Passing“ Foto: Smadar Goshen/SG

Die Tänzer illustrieren und kommentieren, legen Steine in Hände und auf Herzen. Aber indem sie durch den Moment des Darstellens Brücken in die Gegenwart schlagen, machen sie Schweres leichter. Und auch körperlich verständlich, wenn zum Beispiel die Gruppe vom Podest an den Gleisen springt und immer wieder einer zurückbleibt oder aus der Balance kippt.

Erlebenswert ist Smadar Goshens Performance, weil sie die verflochtenen Biografien beleuchtet, die Flucht und Verfolgung schaffen, weil sie das Fremdsein als etwas herausarbeitet, das Menschen unter ihresgleichen eigentlich nicht passieren darf, und weil sie das in ihrer Familie erlebte Leid mit seinen Nachwirkungen bis in die Gegenwart anschaulich macht – so entsteht Lernstoff für die Zukunft.

„Passing“ führt auch über den Pragfriedhof. Foto: stzn/ak

Anrührend erzählt sie zum Beispiel von den Marotten ihrer Großeltern, denen einst die Flucht nach Palästina gelang. Von der Enkelin, die sie „Schatzi“ nannten, ließen sie sich als „Mami“ und „Papi“ ansprechen, ihr Hebräisch hatte Fehler und einen komischen Akzent. „Als Kind dachte ich immer, sie seien so anders“, spricht die Choreografin vor dem Krematorium am Pragfriedhof aus dem Off. „Jetzt weiß ich, sie waren nicht seltsam und nicht anders, sie waren einfach deutsch.“

Der Performance wünscht man ein junges Publikum

45 Minuten dauert „Passing“, genauso lang wie eine Schulstunde – und hinterlässt doch so viele bleibende Eindrücke, dass sich eine Wiederaufnahme eigentlich aufdrängt. Alle Tänzer, alles Material für die Audio-Führung seien vor Ort, sagt Smadar Goshen, die sich Vorstellungen speziell für Schulklassen gut vorstellen kann. Da ein Teil des Textes auf Englisch gesprochen wird, sind vor allem Schülerinnen und Schüler ab der Mittelstufe ihr Wunschpublikum.

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