Hat jemand richtig Bock auf Graben?“ Zwei, drei Hände immerhin gehen in die Höhe. „Okay, dann kümmern sich die anderen um den Kompost.“ Eine halbe Stunde lang hat Isabelle Cisson, 29, referiert. Fünfzehn Leute haben sich auf Bänken und Stühlen im Halbkreis um sie versammelt. Auf der weißen Tafel, die an die Rückseite des Schuppens gelehnt ist, stehen Begriffe wie Bokashi und Heißrotte. Es geht um das „komplexe Thema Kompost“, konkret: eine Kompostmiete anlegen. Aber das ist eben nur der eine Teil des Samstagnachmittagsprogramms. Die andere Aufgabe ist, Johannisbeersträucher als Windschutz zu pflanzen, und dafür muss man erst einmal Bock auf Graben haben.
Wir befinden uns auf der Albhochfläche in Inneringen, das zu Hettingen gehört, der mit knapp 2000 Einwohnern kleinsten Stadt Baden-Württembergs. Obwohl wir mitten im Ort sind, kann hier auf 800 Meter Höhe der Wind heftig blasen, deswegen die Johannisbeersträucher, die exakt an einer Schnur entlang am Rande des Ackers gepflanzt werden. „Aber bitte einen Meter Platz lassen für den Rasenmäher“, sagt Philipp Teufel.
Eine wachsende Bewegung
Teufel, 28, ist IT-Systemingenieur, seine Frau arbeitet für ein Forschungsinstitut in Karlsruhe, „remote“, also überwiegend im Homeoffice. Der junge Familienvater ist für ein Jahr in Elternzeit, die er nicht nur für die zwei kleinen Kinder nutzt, sondern auch für ein Projekt, das er im November vergangenen Jahres gestartet hat. „Anders hätte ich das gar nicht geschafft“, sagt er, denn bevor man das erste Mal auf dem Acker arbeiten konnte, musste ein Verein gegründet und eine Satzung geschrieben, eine Bieterrunde initiiert und mussten Anteilnehmer gefunden werden. Das lief erstaunlich gut: Aus dem Stand hat der Verein 35 Mitglieder und 25 Anteilnehmer. Viele davon sind durch ein ganz klassisches Werbemittel auf das Projekt aufmerksam geworden. An der Hauptstraße, an der sich das zu beackernde Grundstück befindet, steht auf einer dreidimensionalen Holztafel in bunten Buchstaben: Solidarische Landwirtschaft Inneringen.
Solawis, so die gebräuchliche Abkürzung, gibt es in Deutschland viele. 2011 wurde mit 20 Solidarischen Landwirtschaften ein Netzwerk als Dachorganisation gegründet, inzwischen gibt es mehr als 400 Initiativen. Häufig funktioniert eine Solawi so, dass sich Leute zusammentun, um einem Bauern eine feste Abnehmerzahl für einen fixen Betrag zu garantieren, und sich dafür einmal die Woche eine Gemüsekiste abholen können. Oder die Gemeinschaft stellt für eine gepachtete Fläche einen Gärtner ein, der den größten Teil der Feldarbeit für sie erledigt. In Inneringen aber wird fast alles in Eigenregie gemacht. Isabelle Cisson ist nur geringfügig beschäftigt und kommt alle vier Wochen für Workshops aus Freiburg angereist. Die Wochenenden dazwischen müssen sich die Anteilnehmer selbst organisieren und anpacken.
Goethe statt Gurke
„Ich glaube, ich habe gerade zum ersten Mal einen Strauch gepflanzt!“ Georg Schlageter, 53, ist Flaschner, hat viel zu tun und ist deswegen froh, dass das Mitarbeiten keine Pflicht ist. Kommen tut er dennoch oder gerade deswegen gerne. Armin Merkle, 61, der fleißig mitgräbt, ist Physiotherapeut und im Vorstand der Solawi. Er war sofort „Feuer und Flamme“ für das Projekt. „Man muss was machen“, sagt er, denn Corona habe gezeigt, dass es auch mal eng werden könnte. Die Solawi sei zwar „mehr Ergänzung als Selbstversorgung“, aber das große Ziel könne man ja im Auge behalten. Carina Schutz, 33, ist mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern da. Sie ist Lehrerin an der Waldorfschule in Engstingen. „Goethe statt Gurke“, sagt sie, denn sie unterrichtet derzeit Deutsch, Spanisch und Gemeinschaftskunde. Sie habe schon ein Gemüsekisten-Abo gehabt, auch einige Hofläden abgeklappert, aber entweder war das Angebot nicht so vielfältig oder zu weit weg. Da sie selbst keinen großen Garten habe, sei es schön, mit den Kindern draußen zu sein. Außerdem: „Man schmeckt den Unterschied, besonders beim Salat.“ Der Physiotherapeut Armin Merkle geht noch etwas weiter: „Man schmeckt jeden Schweißtropfen. Man hat eben eine ganz andere Beziehung zu den Produkten.“
Die Gemüsekisten, die sich die Anteilnehmer für einen Monatsbeitrag von 50 Euro einmal die Woche aus der Abholstelle in der ehemaligen Traktorgarage mit nach Hause nehmen, sind tatsächlich sehr vielfältig. „Zehn Stangen Lauch braucht ja kein Mensch“, sagt Philipp Teufel. Deswegen habe man bei der Planung darauf geachtet, dass der Mix stimmt und „immer was dabei ist, mit dem man was anfangen kann“. Im Idealfall sollten „vollständige Mahlzeiten“ rausspringen. Derzeit können in den Gemüsekisten bis zu zehn verschiedene Produkte sein: Kartoffeln, Rosenkohl, Grünkohl, Zwiebeln, Mangold, Sellerie, Kürbis, Kohlrabi, Buschbohnen, Zucchini. Für Tomaten und scharfe Paprika gibt es ein großes und ein kleines Gewächshaus, und nächstes Jahr steht ein Hühnerstall auf der Agenda.
Karotten sind kompliziert
Die Planung der Anbaufläche stammt größtenteils von Isabelle Cisson. Sie ist zwar keine Landwirtin oder Gärtnerin, sondern hat gerade ihr Geografiestudium abgeschlossen. Aber schon vor dem Abi arbeitete sie als Landschaftsgärtnerin mit und ist seit dem Studium aktiv bei Acker e. V., einem Verein, für den sie als Coach auch Schuläcker betreut. In einem Auslandssemester hat sie sich mit Permakultur beschäftigt sowie mit Ernährung als globalem Thema auseinandersetzt. Im kleinen Inneringen sagt sie: „Wir sind hier alle reingewachsen und können nun Jahr für Jahr aus unseren Fehlern lernen.“ Mit den Karotten zum Beispiel hat es noch nicht so recht geklappt.
Es ist die erste Ernte auf einer Fläche von noch überschaubaren 1000 Quadratmetern, die sich auf diesem Stück auf 1500 Quadratmeter erweitern lassen. Guter fruchtbarer Boden ohne viele Steine wie anderswo auf der Schwäbischen Alb. „Meine Vorfahren haben ganze Arbeit geleistet“, sagt Philipp Teufel. Und es gibt noch mehr Brachflächen im Ort, die zwar Bauland sein könnten, aber auch als Acker viel Potenzial haben.
Direkt gegenüber auf der anderen Seite der Hauptstraße, wo das frisch renovierte Wohnhaus von Philipp Teufel steht, gibt es weiteres Grünland, das im nächsten Jahr erschlossen werden soll. Theoretisch könnte man insgesamt einen ganzen Hektar bewirtschaften, denn es ist so: Sein Großvater hatte einen großen Hof mit Kühen und Schweinen, der samt Scheune zurückgebaut wurde, als sich die Arbeit nicht mehr lohnte. Teufels Onkel bewirtschaftet heute noch als Nebenerwerb große Felder außerhalb der Ortschaft. Die Fläche in der Ortsmitte hat der Verein für einen sehr symbolischen Betrag von null Euro gepachtet. Das angrenzende Gebäude ist seit vielen Jahren unbewohnt, so wie manches Haus rechts und links der Hauptstraße leer steht. Aber, so heißt es, seit ein paar Jahren würden auch einige Leute wieder nach Inneringen zurückkehren.
Arbeitseinsatz für Kost und Logis
„Wenn wir mit dem Projekt irgendwo draußen auf dem Acker wären, hätten wir wohl keine so große Anziehungskraft“, sagt Philipp Teufel. Nicht nur die Erreichbarkeit mitten im Ort spricht für das Projekt, sondern auch Vorteile wie Regenwasser vom Dach, bei Bedarf zusätzlich Leitungswasser und natürlich Strom. Neben der Nutzung als Logistik-, Lager- und Abholraum hat das Gebäude seit Beginn der Solawi-Aktivitäten noch eine andere Funktion. Es dient als Unterkunft für Gäste und „Workawayer“. Teufel hat das Projekt auf die internationale Workaway-Plattform gestellt, die jungen Reisenden nach dem Prinzip Unterkunft und Verpflegung gegen Mitarbeit einen Aufenthalt vermittelt. 20 Gäste aus der ganzen Welt sind diese Saison da gewesen, um nach zehn Tagen bis zwei Monaten Verweildauer ihre Fünf-Sterne-Bewertung zu hinterlassen. Auch wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes einen „Scheißjob“ haben, wie Henry scherzt: Der Amerikaner schafft gerade gespendeten Pferdemist mit der Schubkarre zum wachsenden Kompostriegel.
Die Solawi Inneringen scheint also ein voller Erfolg zu werden. Philipp Teufel ist sich zwar bewusst, dass es immer welche gibt, „die nach anfänglicher Begeisterung irgendwann wieder abspringen“, aber jeder der Anteilnehmer sei schon mal zum Helfen da gewesen. Und dann gibt es ja noch Vereinsmitglieder, die das Projekt einfach nur mit einem Jahresbeitrag unterstützen, sowie Spender, die nicht nur Pferdemist beisteuern, sondern ebenso Schafwolle als Stickstofflieferant für die Johannisbeersträucher oder Arbeitsgeräte und Maschinenteile oder Regale und Kisten für den Abholraum. Grundsätzlich ist Teufel sehr positiv gestimmt, auch durch das allgemein in Inneringen gut funktionierende Vereinswesen. Dennoch wünscht sich der erste Vorstand mit seinem „professionelleren Anspruch“ noch mehr für seine Solawi: „mehr Koordination, mehr Fläche, mehr Anteilnehmer“, die man brauche, um zum Beispiel eine 50-Prozent-Stelle zu schaffen. Schließlich ist seine Elternzeit Ende des Jahres vorbei und sind somit auch irgendwann seine „99 Prozent Ehrenarbeit“ nicht mehr drin. Mit Blick in die Zukunft sagt Philipp Teufel: „Vielleicht kann ich mir hier in zehn Jahren einfach nur meine Gemüsekiste abholen.“
Zurück in der Gegenwart sehen wir: Nach gut zwei Stunden auf dem Feld ist die Arbeit verrichtet. 15 Johannisbeersträucher sind gepflanzt, und an der Flanke des Ackers ist ein vier Meter langes Kompostmonument entstanden. Nun gibt es Kaffee und selbst gebackenen Kuchen. Auf dem Rückweg „von dr Alb ra“ wird man das Gefühl nicht los, dass die Welt da oben in Inneringen noch ein Stück weit in Ordnung ist.