Solodebüt „Unsichtbares Meer“ Julian Knoth von den Nerven erkundet die Stille
Julian Knoth von den Nerven lässt einen bei seinem Solodebüt „Unsichtbares Meer“ nah an sich ran – auch beim Auftritt bei Second Hand Records in Stuttgart.
Julian Knoth von den Nerven lässt einen bei seinem Solodebüt „Unsichtbares Meer“ nah an sich ran – auch beim Auftritt bei Second Hand Records in Stuttgart.
Kein Versteck. Nirgendwo. Keine Bandmitglieder, die neben einem stehen. Kein Feedback-Pfeifen, kein Krach, kein Getöse, um die Verletzlichkeit, den Schmerz und das Leiden zu überdecken. Nur ein Mann mit einer Gitarre, der über die Niedergeschlagenheit singt, über Einsamkeit und Kraftlosigkeit, Depression und Resilienz, darüber, wie es sich anfühlt, wenn man nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll.
Julian Knoth spielt beim Auftritt am Freitag bei Second Hand Records in Stuttgart erstmals Songs seines Solodebüts „Unsichtbares Meer“ live. Es sind Lieder, die „Der Regen“, „Gestern hatte ich noch einen Traum“ oder „Morgen fängt der Ernst des Lebens an“ heißen, die zwischen Abstumpfung und Empfindlichkeit herumirren, die Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten suchen, mal zärtlicher Indiefolk, mal spröder Lo-Fi-Pop sind.
Julian Knoth ist seit 15 Jahren Sänger und Bassist der Band Die Nerven. Mit Max Rieger und Kevin Kuhn hat er zuletzt das großartige Album „Wir waren hier“ veröffentlicht, das einmal mehr klar gemacht hat, dass das aus Stuttgart stammende Trio eine der wichtigsten Bands Deutschlands ist.
Weil Die Nerven auch einer der besten Live-Acts Deutschlands sind, sollte ein Auftritt in einem Plattenladen für Julian Knoth, der als einziges Band-Mitglied noch in Stuttgart lebt, eine Kleinigkeit sein. Ist es aber nicht. „Ich hab krass geübt und bin trotzdem total nervös“, sagt er. An seiner Aufregung ist aber gar nicht so sehr schuld, dass es sehr persönliche Songs sind, die er hier spielt. Schließlich gibt er immer wieder auch in den Liedern, die er für Die Nerven geschrieben hat, viel von sich preis. „Ich bin aber nicht gewohnt allein aufzutreten“, sagt er, „und ich muss meine Unsicherheit mit dummen Sprüchen überspielen und kann mich nicht auf den Lärm hinter mir verlassen.“
Tatsächlich könnte man sich einen Song wie „Hinterhof der Welt“ auch als eine Nummer der Nerven vorstellen, mit dröhnendem Bass, fiesen Gitarren und wilden Drums. Doch wenn Julian Knoth dieses Lied über die Erstarrung in einem falschen Leben solo zur Akustikgitarre singt, entwickelt das eine intime Direktheit, die keine Noise-Rock- oder Postpunk-Verkleidung überbieten könnte.
Auf „Unsichtbares Meer“ wagt sich Julian Knoth aus den musikalischen Schutzräumen heraus, in denen er sich bisher immer auch ein bisschen verstecken konnte (Die Nerven, Yum Yum Club, Die Benjamins). Selbst bei seinem ersten Soloprojekt diente ihm das Pseudonym Peter Muffin als Tarnung.
Auf „Unsichtbares Meer“ lässt er einen (wie beim Releasekonzert in seinem Lieblingsplattenladen) nah an sich ran. Er macht kein Geheimnis daraus, dass der Ausgangspunkt für das Album die Pandemie war und das damit verbundene Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein. Da entstand auch der störrische Song „Kein Lied“ – ein verstörend nüchternes Corona-Protokoll: „Seltsames Wort, seltsame Zeit/Ging ich heute schon zu weit/Sah ich gestern schon das Glück/Nach vorne führt kein Weg zurück.“
Die Songs sind der Versuch, die persönliche Krise poetisch zu verarbeiten und gestärkt daraus hervorzugehen. Auf dem Cover von „Unsichtbares Meer“ steht er zwar einsam und verloren inmitten der Hochhausgruppe Romeo und Julia in Zuffenhausen. Doch das Album endet mit dem Song „Nie wieder allein“, bei dem Knoth mit der akustischen Gitarre die Strukturen der elektronischen Musik nachahmt und eine Art Loop erzeugt, der zu einem Mantra wird: „Wir werden nie mehr einsam sein und nie wieder allein“, singt er wieder und wieder, bis endlich weitere Stimmen hinzukommen.
Denn tatsächlich sind auf der Platte nicht nur Knoth und seine Gitarre zu hören. Für die meisten Songs hat Seb Urquell Streichersätze komponiert, die von Nina Paul (Violine), Charlotte Oelschlegel (Viola) und Louise Engel (Cello) gespielt werden, die die Intensität der Lieder kunstvoll verstärken.
Beim Auftritt am Freitag muss Knoth allerdings noch auf deren Unterstützung verzichten und stellt hinterher fest: „Ich habe heute mehr geredet als bei 370 Nerven-Konzerten zusammen.“ Ob das jetzt zur Gewohnheit wird, kann man am 31. Januar 2026 erfahren, wenn er von Streichern begleitet im Merlin auftritt. Seine Tour nennt er: „Nie wieder allein“.
Julian Knoth: Unsichtbares Meer. Italic Recordings.