Ein Augenarzt, dessen Patient erblindet, ein Frauenarzt, dessen Patientin fast stirbt – die Fälle zweier einst im Raum Stuttgart tätiger Mediziner zeigen, wie wenig gravierende Vorgänge offengelegt werden müssen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Kaum ein Verhältnis ist so sehr auf Vertrauen angewiesen wie das zwischen Arzt und Patient. Wer neu zu einem Mediziner kommt, verlässt sich nicht nur auf den persönlichen Eindruck. Er oder sie hört sich vorher im Bekanntenkreis um oder konsultiert die einschlägigen Bewertungsportale. Gerne wüssten Patienten natürlich auch, wenn es bei dem Arzt in der Vergangenheit einen gravierenden Vorfall gab, wenn gar Menschen zu Schaden kamen. Doch die Mediziner sind offenbar nicht verpflichtet, das offenzulegen – auch nicht gegenüber einer Praxis, von der sie sich anstellen lassen.

 

Irgendwo in Süddeutschland – genauer sollte man es wegen rechtlicher Risiken nicht angeben – praktizieren zwei Fachärzte mit einer solchen Vorgeschichte, von denen ihre Patienten nichts ahnen: ein Augenarzt und ein Frauenarzt. Beide waren einst im Großraum Stuttgart tätig, beide beschäftigten die Gerichte, beide zogen inzwischen weiter. In einem Fall ist ein Mann nach Komplikationen in Folge eines Eingriffs auf einem Auge dauerhaft erblindet, im anderen eine Frau nach einer missglückten Operation fürs Leben gezeichnet. Beide Fälle und deren Aufarbeitung gelangten in die Medien, später verschwanden die Berichte in den Tiefen des Internets.

Der Augenarzt

Wenn man die aktuelle Webseite des Mediziners betrachtet, vermittelt sich der Eindruck einer Koryphäe mit langer Erfahrung und viel Expertise. Auf dem Portal Jameda bekam er früher beste Bewertungen und eine hervorragende Gesamtnote. Als der Mann vor Jahren bei einem süddeutschen Augenarztverbund anheuerte, liefen gegen ihn Ermittlungen in Norddeutschland. Es ging um den Verdacht medizinisch nicht notwendiger Operationen, die zudem nicht sachgerecht ausgeführt worden seien. Auslöser war eine Strafanzeige der Kassenärztlichen Vereinigung, die Hinweise von Ärzten und Patienten als „plausibel und seriös“ eingestuft hatte. Jahre später wurden die Verfahren eingestellt, teils mangels Tatverdachts, teils wegen Geringfügigkeit. Seinem neuen Arbeitgeber sagte der Arzt offenbar nichts von den Ermittlungen.

Seit einigen Jahren sieht sich der Verbund mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert. Gegen mehrere Ärzte – darunter offenbar auch den besagten – ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen des Verdachts auf Körperverletzung und Abrechnungsbetrug. Sie sollen Patienten zu nicht nötigen Augenoperationen gedrängt haben, allein aus Geldgründen. Der Anwalt des Verbundes hatte den Verdacht als „vollumfänglich falsch“ zurückgewiesen, das gilt noch immer. Strafanzeigen von Patienten, Ärzten und zwei Bezirksärztekammern brachten das Verfahren bereits 2017 in Gang, Ende 2019 wurde es nach einer Razzia durch Berichte unserer Zeitung bekannt. Nun sollen die Ermittlungen laut Staatsanwaltschaft „zeitnah abgeschlossen“ werden; ein zuletzt noch ausstehendes Sachverständigengutachten liege inzwischen vor.

Erst hohe Geldstrafe, dann Einstellung gegen 50 000 Euro

In anderer Sache hat der besagte Augenarzt bereits die Gerichte beschäftigt: Ein Vorfall aus dem Jahr 2018 wurde unlängst straf- und zivilrechtlich aufgearbeitet. Mit einer Netzhaut-Ablösung war ein älterer Mann in eine Praxis des Verbundes gekommen. Nach der Operation ging offenbar einiges schief. Es kam zum Prozess vor dem Amtsgericht, über den eine Lokalzeitung berichtete. Ungenügende Nachsorge hatte laut dem Bericht fatale Folgen: Der nach dem Eingriff stark erhöhte Augeninnendruck sei nicht ausreichend kontrolliert und dann auch noch mit einer falschen Maßnahme behandelt worden. Als der von starken Schmerzen geplagte Mann in die Uni-Augenklinik kam, war es zu spät: Auf dem rechten Auge blieb er blind.

Das Urteil der Amtsrichterin: eine Geldstrafe von 110 Tagessätzen zu 200 Euro wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen. In der nächsten Instanz hoffte der Geschädigte als Nebenkläger offenbar auf ein Urteil sogar wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Doch vor dem Landgericht Stuttgart kam es Ende vorigen Jahres ganz anders: Das Verfahren wurde laut einem Sprecher eingestellt nach einer Klausel für Fälle, in denen sich das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung durch Auflagen beseitigen lasse und die Schwere der Schuld nicht entgegenstehe. Dem Arzt wurde ein Schmerzensgeld von beachtlichen 50 000 Euro auferlegt, zusätzlich zu einer im parallelen Zivilverfahren per Vergleich vereinbarten Zahlung von 8000 Euro. Formal bleibt damit nichts an dem Augenmediziner hängen.

Augenärzte „mit gebotener Sorgfalt“ ausgesucht

Was sagt der Augenarzt-Verbund dazu? Er sieht laut seinem Anwalt „keine Gründe“, selbst rechtlich gegen den Arzt vorzugehen. Die Versorgung im fraglichen Notfall sei „unverzüglich nach den gesetzlichen und medizinischen Vorgaben“ erfolgt. Nicht jedes negative Ergebnis sei auf eine fehlerhafte Behandlung zurückzuführen, Misserfolge ließen sich in der Medizin nicht immer verhindern. Seine Ärzte suche der Verbund „mit der gebotenen Sorgfalt“ aus, betont der Anwalt, für die Einstellung verlange man „überdurchschnittliche“ Voraussetzungen. Aus privaten Gründen habe der Arzt seinen Lebensmittelpunkt verlegt und dort eine neue Beschäftigung angenommen. Anfragen an seine neue Praxis blieben ohne Reaktion.

Der Frauenarzt

Als Ende vorigen Jahres in Stuttgart-Gablenberg die Frauenarzt-Praxis eines Berliner Verbundes plötzlich geschlossen war, wurde das auch mit Personalproblemen begründet: Es sei leider nicht gelungen, Ärzte dauerhaft an den Standort zu binden. Ein Gynäkologe war nach Recherchen unserer Zeitung nur für kurze Zeit dort tätig. Dann kam durch eine Internet-Recherche eher zufällig heraus, dass er in Frankreich Schlagzeilen gemacht hatte: Bei einer Gebärmutterspiegelung habe er eine Patientin so schwer verletzt, dass sie fast gestorben wäre. Selbst als ihn seine Kollegen warnten, habe er noch weitergemacht – wie ein „Metzger“, hieß es an der Klinik. Die Frau ist seither massiv eingeschränkt. Der Arzt wurde laut Medienberichten in Frankreich wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt; zudem gab es ein Zivilverfahren mit unbekanntem Ausgang.

Kein Kommentar zu Schlagzeilen in Frankreich

Seinem neuen Arbeitgeber berichtete der Mann von alldem nichts. Als der Verbund doch davon erfuhr, sah er keine Basis mehr für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit – und trennte sich zügig. Offiziell hieß es, man könne zu ehemaligen oder aktuellen Angestellten nichts sagen. Bei Einstellungen prüfe man alle Unterlagen und führe auch eine Google-Suche durch. Als unsere Zeitung den Arzt an seiner neuen Wirkungsstätte wegen der geschlossenen Praxis kontaktierte, meinte er zunächst, das tue ihm leid für die Patientinnen; wenn gewünscht, könne er die Leitung kommissarisch übernehmen. Nach den Vorgängen in Frankreich gefragt, wurde er einsilbig und lehnte eine Stellungnahme ab. Darum kümmere sich aktuell die deutsche Justiz, auf sein Betreiben. Näheres verriet er dazu nicht.

Bei der Landesärztekammer heißt es allgemein, Ärzte seien grundsätzlich nicht verpflichtet, Strafverfahren gegenüber einem künftigen Arbeitgeber offenzulegen. In bestimmten Bereichen müsse ein polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt werden. Nach Abschluss eines Strafverfahrens erhalte die zuständige Bezirksärztekammer eine sogenannte „Mitteilung in Strafsachen“. Sie prüfe dann, ob ein „berufsrechtlicher Überhang“ bleibe und eine Sanktion zu verhängen sei. Neben Warnung und Verweis könnten die Berufsgerichte auch Geldbußen aussprechen, bis zu 50 000 Euro. Mit der Approbation habe die Kammer nichts zu tun, über Erteilung, Ruhen, Rückgabe und Widerruf entscheide für ganz Baden-Württemberg das Regierungspräsidium Stuttgart.