Stiftskirchenpfarrer Matthias Vosseler mit der Heilig-Kreuz-Glocke von 1520 im Südturm der Kirche. Die Glocke wurde von den Nazis abgehängt, entging jedoch der geplanten Einschmelzung. Foto: Lichtgut/Christoph Schmidt
80 000 Kirchengklochen gingen in den beiden Weltkriegen durch Einschmelzen und Bombeneinwirkung verloren. Die mehr als 500 Jahre alten Glocken der Stuttgarter Stiftskirche entgingen der Zerstörung. Ihr Klang ist ungebrochen schön.
Ein Pfarrer, der die Kanzel besteigt, das ist sonntägliche Routine. Wenn der Pfarrer jedoch Matthias Vosseler heißt, dann bleibt’s nicht bei der Kanzel. Dann geht’s auch mal höher rauf, wie vergangene Woche bei einem Ortstermin mit Fotograf und Berichterstatter. Ziel war Südturm der Stuttgarter Stiftskirche, der kleinere der beiden Türme der Hauptkirche der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, in dem mehrere große Glocken hängen, und der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist.
Der Einstieg erfolgt von außen über eine unscheinbare Tür. Dahinter verbirgt sich eine schmale Wendeltreppe. An den Wänden haben Handwerker ihre Namen hinterlassen; das älteste Graffiti datiert von 1883. Auf halber Höhe befindet sich ein Raum, von dessen Decke das Glockenseil der Torglocke baumelt, der einzigen Glocke der Stiftskirche, die noch von Hand geläutet wird. Zweimal im Jahr: zum Gedenken an die Zerstörung Stuttgarts durch die Bombenangriffe am 25. Juli und am 13. September 1944. Pfarrer Vosseler hat sie selbst schon geläutet. Früher ertönte diese vor 740 Jahren gegossene, älteste Glocke Stuttgarts, bevor abends die Stadttore geschlossen wurden – als Signal an die Bürger, die sich außerhalb der Stadtmauer aufhielten.
Anlass für die Glockenbesichtigung ist unsere Zeitungsserie über die Stuttgarter Kriegsfilmchronik. Gemeinsam mit dem Stadtarchiv veröffentlicht die Redaktion im Wochenrhythmus Ausschnitte aus den in den Jahren 1941 bis 1944 aufgenommenen Filmen, deren Bestand bundesweit einmalig ist. In der jüngsten Folge ging es um die Glockenabnahme am Rathaus und an Kirchen. Die Nationalsozialisten hatten die Abnahme befohlen, um die Bronzeglocken einzuschmelzen und damit Zinn und Kupfer für die Produktion von Munition zu erhalten. 91 Glocken wurden damals in Stuttgart abgenommen. Betroffen waren auch die katholische Kirche St. Elisabeth im Stuttgarter Westen und eben die Stiftskirche. In dem Film ist zu sehen, wie Glocken abgeseilt werden. An einer erkennt man einen weißen Schriftzug in der Innenseite: „St. Elisabeth“. Man wollte die konfiszierten Glocken zuordnen können.
Der Pfarrer unter der Glocke
Bei diesem Stichwort packt Pfarrer Vosseler die Neugier. Ob auch die Glocken der Stiftskirche eine Markierung aus jener Zeit tragen? Vier von ihnen, entgingen nämlich der Zerstörung und überdauerten den Krieg im Steinbruch Lauster in Bad Cannstatt. Später kehrten sie an ihren Platz zurück. Vosseler beschließt nachzusehen und betritt den Raum oberhalb der Torglocke. Dort befindet sich der Glockenstuhl, an dem die Heilig-Kreuz-Glocke – die Sonntagsglocke – befestigt ist. 1520 wurde sie Biberach gegossen; sie wiegt 3270 Kilogramm. Der Pfarrer schlüpft unter die Glocke, leuchtet mit seinem Smartphone die Innenseite ab, macht Fotos – bis zum 12.15-Uhr-Läuten ist es noch eine halbe Stunde Zeit.
So nah hat er die Glocke noch nie betrachtet. Ein Schriftzug aus der Nazi-Zeit ist nicht zu erkennen, dafür andere, schwer entzifferbare Zeichen. Vosseler, der ein geübter Freizeitkletterer ist, schwingt sich auf den von Staub bedeckten Holz-Glockenstuhl als wäre es eine Kletterwand. Oben hängen die anderen, erst nach dem Krieg gegossenen Glocken. Über eine Leiter klettert er weiter bis zur Turmspitze, von wo sich ein großartiger Blick auf Stuttgart bietet – mit dem Schillerplatz und dem Alten Schloss zu Füßen. „Hier hatte die Polizei während der Fußball-Europameisterschaft 2024 einen Sicherheitsposten eingerichtet“, erzählt der Pfarrer. Während er spricht, kreist ein Turmfalkenpaar elegant um den Kirchturm. Es hat hier seinen Nistplatz.
Glockenabnahme an der Stiftskirche Foto: Stadtarchiv Stuttgart
„Und dort hängt die Gloriosa!“ Vosseler zeigt auf den Westturm der Stiftskirche, der sich Richtung Rathaus erhebt. Darin befindet ich die Guldenglocke, die auch Gloriosa genannt wird. Sie dient als Festtagsglocke, schlägt jeweils zur vollen Stunde, und stammt wie die Heilig-Kreuz-Glocke aus Biberach. Auch diese 505 Jahre alte und sechs Tonnen schwere Glocke wurde 1942 ein Raub der Nazis. Als 1944 Bomben auf die Stiftskirche fielen, war sie ebenfalls im Steinbruch Lauster deponiert. Vosseler spricht von „einem Wink des Schicksals“, dem es zu verdanken sei, „dass die zu Kriegszwecken ausgebauten Glocken überlebt haben“. Vielleicht, so meint er, „war es auch göttliche Fügung“.
Die traurige Geschichte der Glockenabnahmen wiederholte sich
So eindringlich und laut diese Glocken auch läuten – ihre Abnahme vollzog sich damals in aller Stille. Robert Kieferle, ein Stuttgarter, der bei Kriegsende 15 Jahre alt war, kann sich nicht erinnern, dass die Glockenabnahme ein Thema gewesen wäre. „Die Leute waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt“, erzählt der 95-Jährige. Die Nazis, so erläutert auch Heike van der Horst, Historikerin am Stadtarchiv, hatten vermieden, die Entfernung der Glocken als antikirchliche Maßnahme erscheinen zu lassen. Belegt ist jedoch, dass die Abnahme der Glocken an St. Elisabeth in der dortigen Kirchengemeinde heftige Emotionen auslöste.
An der Stiftskirche wurden zu Jahresbeginn 1942 acht Glocken abgehängt: neben der Gulden-, der Heilig-Kreuz- und der Torglocke auch das Herr-segne-uns-Glöckle von 1498. Kleinere Glocken, wie das berühmte Silberglöcklein, um das sich die Legende einer jungen Adligen rankt, die ihren Silberschmuck zu einem Glöckchen schmieden ließ, um damit nach ihrer Mutter zu läuten, die sich im Wald verirrte hatte, blieben hängen. Erlaubt war den Kirchen damals nur noch eine Läuteglocke. Während die historischen Glocken bis auf Weiteres im Steinbruch Lauster eingelagert wurden, wanderten die vier neuesten Glocken der Stiftskirche sofort in den Schmelzofen; sie waren erst 1938 aufgehängt worden als Ersatz für Glocken, die bereits im Ersten Weltkrieg abgenommen worden waren. Die traurige Geschichte der Glockenabnahmen wiederholte sich.
Am Geburtstag des „Führers“ läuteten die Glocken
Auch wenn die Nazis die offene Konfrontation vermieden, hatten sie den Handlungsspielraum der Kirchen schon zuvor stark beschränkt. Durch Eingriffe in die sogenannte Läuteordnung behinderten sie die liturgische Funktion des Geläuts. „1940 verfügten die Nazis, dass vormittags keine Glocken mehr geläutet werden dürfen“, erklärt Vosseler. Angeblich, um den Menschen nach nächtlichen Angriffen Ruhe zu gönnen. Die Glocken durften auch nur noch höchstens drei Minuten lang läuten. Es sei denn, es war „Heldengedenktag“ oder der „Führer“ hatte Geburtstag. Dann ertönte eine Viertelstunde lang Glockenklang. In der 1955 beschlossenen Läuteordnung für evangelisch-lutherische Gemeinden klingt dieser Missbrauch bis heute nach. Dort heißt es: Die Verwendung der Glocken zur „Menschenehrung“ sei ausgeschlossen.
Matthias Vosseler klettert über den Glockenstuhl wieder hinunter. Die Tür hat sich kaum geschlossen, da wummert die Heilig-Kreuz-Glocke mächtig zum Mittagsgebet. „Gerade noch rechtzeitig“, sagt er und grinst. Er liebt den Glockenklang. Besonders den der Gloriosa: „Ich könnte sie unter Hunderten heraushören.“ Die Kraft, die davon ausgeht, hat seiner Meinung nach auch die Gemeinde der Nachkriegszeit beflügelt. Nachdem die Glocken 1951 wieder hingen, ergänzt um neue Glocken der Gießerei Kurz aus dem Heusteigviertel, wurde ein großes „Läutkonzert“ veranstaltet. Tausende Menschen strömten auf den Schillerplatz, um die vertrauten Glocken zu hören. Der damalige Pfarrers Konrad Gottschick notierte, dieses Konzert habe einen Impuls gegeben, die stark zerstörte Stiftskirche wieder aufzubauen. Lange war die Frage des Wiederaufbaus offengeblieben.
Würdigung der Glocken als immaterielles Kulturerbe
Die Bedeutung von Glocken, die schon Friedrich Schiller besang („Freude dieser Stadt bedeute/Friede sei ihr erst Geläute“) wird heute auch an höherer Stelle gesehen. Vor wenigen Wochen wurden Glockenguss und Glockenmusik ins bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen und damit als schützenswert anerkannt – zur Freude von Matthias Vosseler und Kulturstaatssekretär Arne Braun.
Bischöfin Kirsten Fehrs, die Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, schreibt dazu: „Der Klang der Kirchenglocken ist uns so vertraut wie das Geräusch des eigenen Atems.“ Dass sie – wie bei Schiller beschrieben – seit 1000 Jahren im Lehmformverfahren aus Bronze hergestellt werden, sei eine „einzigartige kulturelle Leistung“. Das Zerstörungswerk der Nazis hat daran nichts zu zu ändern vermocht. Bundesweit gibt es heute 90 000 Kirchenglocken.
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