Anneliese Spahr heiratete 1941 in Stuttgart per Ferntrauung – eine Szene aus der Stuttgarter Kriegsfilmchronik. Foto: Stadtarchiv Stuttgart
Heiraten in den Kriegsjahren hatte wenig mit Romantik zu tun. Die Männer mussten nicht einmal dabei sein, wenn sie an der Front unabkömmlich waren. Ein Beispiel aus Stuttgart.
Hitler ist da, doch der Ehemann fehlt. Dieser Gedanke beschleicht den Betrachter der im Film festgehaltenen, bizarr anmutenden Trauzeremonie von Anneliese Spahr und Günther Klingler vor bald 84 Jahren im Stuttgarter Rathaus.
Die Bilder sind Teil der Kriegsfilmchronik des Stuttgarter Stadtarchivs und thematisieren die damalige Praxis der sogenannten Kriegsferntrauung, die dann griff, wenn die Männer nicht anwesend sein konnten, weil sie an der Front kämpften. Es genügte, dass Soldaten eine schriftliche Einverständniserklärung und eine eidesstattliche Erklärung über ihre „deutsche Abstammung“ vorlegten. Der Trauung stand dann nichts mehr im Wege Hauptsache der „Führer“ war da – in Gestalt einer Büste. Laut Heike van der Horst, Historikerin am Stuttgarter Stadtarchiv, waren Standesbeamte per Dienstanweisung gehalten, für eine NS-standesgemäße Ausstattung von Trauzimmern zu sorgen. Einschließlich Hitler-Büste und Hakenkreuzfahne.
Keinerlei Anzeichen von jungem Glück
Daran fehlt es in dem Film nicht. Auch nicht an Blumen. Dort, wo man einen strahlenden Bräutigam erwarten könnte, liegt ein weißer Strauß – die Assoziation zum Trauergebinde ist wohl nicht zu weit hergeholt, auch wenn der als Flaksoldat an der Westfront eingesetzte Günther Klingler den Krieg glücklicherweise überlebte. Die Alternative zum Blumenschmuck war ein Stahlhelm. Heike van der Horst kennt entsprechende Zeugenberichte und Fotos: „Im Volksmund hieß das dann ,Stahlhelmehe‘“.
Eine freudlose Angelegenheit. In dem von Regisseur Jean Lommen im Auftrag der Stadt gedrehten, tonlosen Film sind keinerlei Anzeichen von jungem Glück zu erkennen. Die Braut mit Hut blickt ernst drein. Die Trauzeugen – Katharina Spahr, die Mutter der Braut und Hermann Klingler, Vater des Bräutigams – zeigen nur verhalten Regung. Am wenigsten der schwarz gewandete Standesbeamte Emil Ruoff, dessen Ansprache an die Braut nicht überliefert ist, die jedoch den damaligen Vorgaben entsprochen haben dürfte. Heike van der Horst weiß: „Es gab staatlicherseits Empfehlungen, auf die Bedeutung der Ehe im nationalsozialistischen Staat hinzuweisen.“ Routinemäßig sei den Männern anschließend die Heiratsurkunde per Feldpost zugeschickt worden – „gebührenfrei“.
Als Anneliese Spahr am 21. Juni 1941 Günther Klingler ehelichte, war die sogenannte Ferntrauung nichts Ungewöhnliches mehr. In einem ersten Schritt war Ende August 1939 die „Kriegstrauung“ eingeführt worden – kurz vor dem Überfall Deutschlands auf Polen vom 1. September 1939. Es handelte sich um eine beschleunigte Eheschließung, die kein Aufgebot erforderte: „Das Ehetauglichkeitszeugnis war nicht mehr verpflichtend“, erklärt van der Horst: „Und der sogenannte Ariernachweis konnte durch eidesstattliche Versicherungen der Verlobten ersetzt werden.“ Der fortschreitende Krieg machte sich auch in den Standesämtern bemerkbar. In den ersten beiden Jahren nach Einführung der Kriegstrauung wurden in Stuttgart 2283 solcher Heiraten gezählt.
Seit November 1939 gab es zusätzlich, wie bei Kontoristin Anneliese Spahr und dem promovierten Juristen und damaligen Gerichtsreferendar Günther Klingler praktiziert, die Möglichkeit der „Ferntrauung“. Laut Stadtarchiv wurde in den Innenstadtbezirken bis 1943 rund 530 Ferntrauungen geschlossen – von 15 300 Eheschließungen in Stuttgart seit Kriegsbeginn. „Zumindest in den ersten beiden Kriegsjahren machten wesentlich mehr Paare von der Kriegstrauung Gebrauch als von der Ferntrauung“, sagt van der Horst. Die Heiratsregister geben über die Art der Trauung Auskunft. Wurde die Ehe per Ferntrauung geschlossen, findet sich dort der Passus, dass der Ehemann sein Einverständnis gegenüber seinem Kommandanten schriftlich erteilt hat. Zudem ist vermerkt: „Der Mann war nicht anwesend.“
Der Standesbeamte überreicht der Braut ein Exemplar von Hitlers „Mein Kampf“. Foto: Stadtarchiv Stuttgart
Die Ferntrauung erfüllte einen praktischen Zweck: „Die Soldaten an der Front und ihre Verlobten waren froh über diese Möglichkeit“, sagt die Historikerin: „Es musste ja damit gerechnet werden, dass der Mann fiel.“ Verheiratete Frauen hatten Anspruch auf Witwenrente – ein wichtiger Aspekt, besonders, wenn das Paar Kinder bekam. Bei Anneliese Spahr und Günther Klingler war das nicht der Fall. Die Ehe blieb kinderlos; 1951 wurde sie geschieden. Er starb 1985, sie 2009. Das staatliche Kalkül war jedoch ein anderes. Hinter der Kriegs- und der Ferntrauung habe eine klare bevölkerungspolitische Absicht gesteckt, sagt van der Horst: „Man wollte einen Bevölkerungsrückgang durch Kriegsverluste vermeiden.“ Überhaupt sei Heiraten im Nationalsozialismus keine Privatsache gewesen, sondern eine hochpolitische Angelegenheit: „Die Familie wurde als Keimzelle des NS-Staates betrachtet.“ Dazu kam die NS-Ideologie mit der Vorstellung einer „reinblütigen“ Volksgemeinschaft. Auch deshalb hätte man Eheschließungen von Wehrmachtsangehörigen erleichtert.
Der „Führer“ – als „Leitstern“ der Ehe
Ein Geschenk erhielt Anneliese Spahr auf dem Stuttgarter Standesamt an jenem 21. Juni 1941 übrigens auch – keine Bibel, sondern Hitlers „Mein Kampf“, versehen mit einer offiziellen Widmung: „Die Stadt Stuttgart überreicht es (das Buch) dem Ehepaar – Günther Klingler / Anneliese geborene Spahr – zur Vermählung mit dem Wunsche, dass die Gedanken unseres Führers auch für diese Ehe Leitstern und Richtung sein mögen.“ Hitler war allgegenwärtig.
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