Stuttgarter Geschichte Die „Büchsenschmiere“ und die Nazis

Das Hospitalviertel vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum die Hospitalkirche, die unmittelbar an die berüchtigte „Büchsenschmiere“ angrenzte. Die Arrestzellen befanden sich im Obergeschoss des Querbaus (mit Türmchen). Auch die dahinter liegenden Gebäude gehörten zum Polizeiareal Foto: Polizeimuseum

Die Geschichte der „Büchsenschmiere“, dem Stuttgarter Polizeigefängnis und Sitz der Kripo in der NS-Zeit, ist wenig bekannt. Eine Dokumentation und eine Ausstellung am Ort des damaligen Geschehens, dem heutigen Hospitalhof, sollen die Wissenslücken schließen.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Dieser Text handelt von der Büchsenschmiere! Bitte von was? Von der BÜCHSENSCHMIERE! Man kann’s noch so groß schreiben, noch so laut sagen und mit einem Ausrufezeichen versehen – man wird überwiegend doch in fragende Augen blicken. Vor 85 Jahren wäre die Reaktion vermutlich noch eine ganz andere gewesen. Die Leserschaft wäre vor der Bezeichnung zurückgewichen, denn er war mit Angst behaftet. „Büchsenschmiere“ – so nannte der Stuttgarter Volksmund den mächtigen, schon rein äußerlich furcht- oder respekteinflößenden Sitz der Kriminalpolizei im Hospitalviertel mit dem dazugehörenden Polizeigefängnis. Sein Standort war exakt dort, wo heute der Hospitalhof steht, das 2014 von dem Architekturbüro Lederer/ Ragnarsdóttir/Oei entworfene, zeitlos moderne evangelische Bildungszentrum. Größer könnte der inhaltliche Kontrast nicht sein.

 

Mächtiges Gebäude: die „Büchsenschmiere im Hospitalviertel. Foto: Stadtarchiv Stuttgart

Er war damals schon groß, denn die „Büchsenschmiere“, deren Namen sich aus der angrenzenden Büchsenstraße und dem aus der Gaunersprache stammenden Begriff „Schmiere/Wache stehen“ ableitet, grenzte unmittelbar an die Hospitalkirche, seinerzeit eine der drei evangelischen Hauptkirchen in der Stadt, neben der Stiftskirche und der Leonhardskirche. Hier Kripo, dort Kirche – das entwickelte sich zu einem aus heutiger Sicht unvereinbaren Gegensatz, als die Kriminalpolizei nach der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 reichsweit gleichgeschaltet wurde und in den unmittelbaren Einflussbereich der neu gegründeten Geheimen Staatspolizei (Gestapo) geriet. In Stuttgart lässt sich dies am Beispiel der „Büchsenschmiere“ nachverfolgen – mit schlimmen Folgen für Verfolgte des Naziregimes.

Zu verdanken ist die Aufarbeitung der Leiterin des Hospitalhofs, Monika Renninger, dem Vorsitzenden der Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“, Andreas Keller, und dem Münchner Historiker Peter Poguntke, der viele Jahre in Stuttgart gelebt und geforscht hat. Anlässlich der Einweihung des neuen Hospitalhofs vor zehn Jahren haben sie sich an eine Gemeinschaftsarbeit gemacht, um „ein vergessenes Kapitel Stuttgarter Stadtgeschichte“ in Erinnerung zu rufen – so auch der Untertitel ihrer 130 Seiten starken Dokumentation, die am kommenden Dienstag (25. Juni) um 19 Uhr im Hospitalhof vorgestellt wird. Sie ist auch Grundlage einer zeitgleich startenden Ausstellung über die „Büchsenschmiere“, die von Veranstaltungen begleitet wird.

Ein Teil des verzweigten Polizeigebäudes von der Büchsenstraße aus gesehen – aus der Fotoserie Stuttgart 1942 Foto: Stadtarchiv Stuttgart

Die Aufgabe, der sie sich gestellt haben, vergleichen sie mit einem „Puzzlespiel“, denn bei der Zerstörung des Hospitalviertels bei dem schweren Luftangriff auf Stuttgart in der Nacht vom 12. auf den 13. September 1944 gingen viele Dokumente verloren. Dennoch ergibt sich ein aussagekräftiges Bild. Die Anfänge sind ohnehin gut erschlossen: 1473 gründet Graf Ulrich V. an dieser Stelle ein Dominikanerkloster; mit dem Bau der Hospitalkirche war bereits zwei Jahre zuvor begonnen worden. Im Zuge der Reformation wird das Kloster 1536 aufgelöst und geht an die Stadt Stuttgart, die dort ein Bürger-Hospital einrichtet und bis 1894 unterhält. 1895 zieht die Stuttgarter Polizei ein, die ein zusätzliches Stockwerk mit Arrestzellen belegt. In den Folgejahren steht die „Büchsenschmiere“ für polizeitechnische Neuerungen wie die Einführung von Dienstmarken. Persönlichkeiten wie Henriette Arendt, Tante von Hannah Arendt und erste Polizeiassistentin Deutschlands, tun dort Dienst. Nach und nach werden Abteilungen ausgegliedert – bis auf die Kriminalpolizei, die landesweite Zuständigkeiten erhält und bis 1945 hier ihren Sitz hat.

Die „Büchsenschmiere“ wird Teil des Verfolgungsapparats

Allerdings mit einer völlig veränderten Haltung. „Der Nationalsozialismus veränderte den Charakter der ,Büchsenschmiere‘ grundlegend“, erläutert der Historiker Poguntke. Die Kripo habe sich nach der Machtergreifung Hitlers zu einem „Herrschaftsinstrument der NS-Diktatur“ entwickelt. Die Übergänge mit der im Hotel Silber angesiedelten Gestapo sind fließend – vor allem personell. Im September 1943 wird die Kripo auch administrativ aus der Verwaltung der Stuttgarter Polizeipräsidiums ausgegliedert und dem Berliner Reichskriminalpolizeiamt unterstellt. Die „Büchsenschmiere“ ist da längst Teil des Unterdrückungs- und Verfolgungsapparats: Sinti, Roma, Homosexuelle und Regimegegner werden hier festgehalten und gequält, teils auch Jüdinnen und Juden.

„Häufig bildete die Büchsenstraße eine Zwischenstation auf dem Transport in Konzentrationslager“, betont der Historiker. An die Betroffenen erinnert eine vom früheren Prälaten Martin Klumpp initiierte Gedenktafel am Hospitalhof, die überarbeitet wurde und auf der es jetzt heißt: „Wir gedenken aller, die aus politischen, religiösen und anderen Gründen verfolgt, entrechtet, deportiert und ermordet wurden – Sinti:ze und Roma:nja, Angehörige sexueller Minderheiten, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Oppositionelle.“

1950 werden die Knochenreste von elf Zwangsarbeitern entdeckt

Unter den Oppositionellen waren bekannte Geistliche wie Helmut Goes und Julius von Jahn, die in der „Büchsenschmiere“ einsaßen. Die neue Dokumentation enthält auch Zeugnisse von Juden wie Georg Herzberg, der über seine Verhaftung im November 1938 schrieb: „Ich kam im Gefangenenwagen in die Büchsenstraße: dabei wurden reichlich Schläge ausgeteilt. Am Nachmittag desselben Tages ging es weiter nach Dachau . . .“ Auch bei der Verfolgung homosexueller Menschen arbeiteten Gestapo und Kripo in Stuttgart „Hand in Hand“. Auf ihr Schicksal macht nachdrücklich auch die Stuttgarter Initiative Weissenburg aufmerksam. Zu den besonders bedrückenden Dokumenten zählt ein Schreiben des Polizeipräsidiums Stuttgart aus der Nachkriegszeit. Es belegt den Fund von Knochenresten, die im Februar 1950 von „Arbeitern der Trümmerverwertungsgesellschaft“ in den Resten der „Büchsenschmiere“ entdeckt wurde. Untersuchungen ergaben, dass es sich um die Gebeine von elf hier festgehaltenen Zwangsarbeitern aus Polen, Tschechien, der Slowakei und aus Russland handelte, die bei dem Bombenangriff im September 1944 ums Leben kamen. Ihre sterblichen Überreste wurden auf dem Pragfriedhof beigesetzt. Auf dem Steinhaldenfriedhof erinnert heute ein eigenes Gräberfeld an die Zwangsarbeiter.

Ein Schlussstein, aber kein Schlussstrich

15 Jahre lang blieb das Hospitalviertel ein Trümmerfeld. Dann entstand dort wieder kirchliches Leben: Durch einen Grundstückstausch mit der Stadt übernahm die evangelische Gesamtkirchengemeinde das Gelände rund um das zerstörte Polizeigebäude. Die Kirche blieb Ruine, lediglich der Chor wurde bis 1960 wieder aufgebaut und seitdem für Gottesdienste genutzt. Daneben entstand ein Tagungs- und Verwaltungsgebäude, der Hospitalhof. 2014 wurde er durch den heutigen Bau ersetzt, der sich baulich an der Grundstruktur des einstigen Klosters orientiert und das evangelische Bildungszentrum beherbergt. So schließt sich ein Kreis. Die Aufarbeitung dessen, was sich hier in der Nazizeit ereignete, wirkt wie ein Schlussstein im Ensemble, jedoch keinesfalls wie ein Schlussstrich. „Es geht uns darum, die Erinnerung lebendig zu halten“, sagen Monika Renninger und Andreas Keller.

Programm

Ausstellung
Die Geschichte der „Büchsenschmiere“ ist Thema einer Publikation von Peter Poguntke, Andreas Keller und Monika Renninger, die zum Preis von 17 Euro im Hospitalhof erworben werden kann. Sie bildet auch die Grundlage einer Ausstellung vom 25. Juni bis zum 22. August im Hospitalhof in der Büchsenstraße 33.

Begleitprogramm
Rund um die Ausstellung gibt es mehrere vom Hospitalhof und der Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ organisierten Veranstaltungen, beginnend am 5. und 6. Juli mit einer Performance („Hidden Voices“) vor und im Hospitalhof, jeweils von 20 bis 21.30 Uhr. Dabei soll, die im damaligen Polizeihauptquartier festgehalten und erniedrigt wurden, ihre Stimme zurückzugeben werden. Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Die Performance ist auch Thema bei einem Podiumsgespräch am 15. Juli. Zwei weitere Performances („Passing“) stehen am 27 und 28. Juli an.

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