Die Gedenkstunde zum 86. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Stuttgarter Synagoge fiel eindrücklich aus – auch dank junger Stimmen. Geprägt war der Abend von tiefer Sorge angesichts des sich ausbreitenden Antisemitismus.
Genau 86 Jahre nach den staatlich geschürten und organisierten Pogromen gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland hat die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg der Ereignisse vom 9. November 1938 gedacht. „Die Nacht als die Synagogen brannten hat sich wie kein anderes Ereignis ins Gedächtnis eingebrannt“, sagte Mihail Rubinstein, Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft, am Samstagabend zum Auftakt einer Gedenkveranstaltung in der voll besetzten Synagoge im Hospitalviertel.
In der Pogromnacht waren reichsweit Synagogen niedergebrannt und jüdische Geschäfte zerstört worden. In Stuttgart standen die Synagogen an der Hospitalstraße und in Bad Cannstatt an der König-Karl-Straße in Flammen. Rubinstein sagte, der 9. November symbolisiere bis heute die Judenverfolgung. Unter dem Schock jener Nacht seien vielfältige Anstrengungen unternommen worden, Juden die Flucht aus Nazi-Deutschland zu ermöglichen. Als Beispiel nannte er die Kindertransporte, mit denen 1938/39 insgesamt 10 000 jüdische Kinder nach England gelangten, darunter auch etliche aus Stuttgart. In der Württembergischen Landesbibliothek informiert darüber noch bis 25. Januar die Ausstellung „I said ,Auf Wiedersehen‘“.
Besorgt verwies Rubinstein auf Entwicklungen in jüngerer und jüngster Zeit. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, sei zu beobachten, wie Teile der Bevölkerung in Deutschland „den Köder des Antisemitismus schlucken“. „Der Tag hat ein Erdbeben ausgelöst, das bis nach Baden-Württemberg reicht“, sagte Rubinstein. Es finde eine absurde Täter-Opfer-Umkehr statt. Zugleich tue sich eine Kluft zwischen Juden und der Mehrheitsgesellschaft auf. In seiner Rede forderte er, „dem offenen und verdeckten Judenhass gemeinsam entgegenzutreten“.
„Eine Zukunft haben wir nur gemeinsam“
Der Appell zur Gemeinsamkeit zog sich auch durch den Beitrag von Michael Blume, dem Beauftragten des Landes gegen Antisemitismus. „Eine Zukunft haben wir nur gemeinsam“, sagte Blume, der vielen der Anwesenden für ihren Einsatz für jüdisches Leben dankte – von Landtagspräsidentin Muhterem Aras über Susanne Jakubowski vom Rat der Religionen bis zu Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche. Blume lobte die vom Bundestag in dieser Woche verabschiedete Antisemitismusresolution und betonte, Kritik an der Regierung Netanjahu sei legitim, wenn es „Kritik aus Solidarität“ sei. Die Grenze zum Antisemitismus sei überschritten, wenn indirekt oder direkt das Existenzrecht Israels in Abrede gestellt werde. „Die nächsten Jahre werden hart“, prophezeite er. Man dürfe sich jedoch nicht einschüchtern lassen.
Fezer betont die Verpflichtung gegenüber der Jugend
Davon ist auch die Schulbürgermeisterin der Stadt Stuttgart, Isabel Fezer, weit entfernt: „Ich weigere mich zu kapitulieren und mich der Verzweiflung zu ergeben. Wir haben auch eine Verpflichtung gegenüber der Jugend“, sagte Fezer, die auch Vorstandssprecherin der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ist. Angesichts des wachsenden Antisemitismus sei es „unsere größte Aufgabe, Zusammenhalt zu schaffen“. Dazu brauche es auch neue Ansätze. Als Beispiel nannte sie das Projekt Scora, das unter anderem einen Austausch zwischen deutschen und israelischen Schulen organisiert. Eine dieser Schulen, die Freie Evangelische Schule Stuttgart, gestaltete die Gedenkstunde in der Synagoge mit. Schülerinnen und Schüler hatten dazu Beiträge vorbereitet. Auch die Religionsschüler des Jugendzentrums Halev setzten mit einem Theaterstück junge Akzente.
Eindrücklich fiel die Rede von Alon Bindes, dem Präsidenten der Jüdischen Studierendenunion Württemberg, aus. Er warnte davor, dass jüdisches Leben in Europa verschwinden könnte: „Vor 86 Jahren loderte hier in der Stuttgarter Synagoge das Feuer so hoch und so gewaltig, dass es das Ende für die jüdische Gemeinde einläutete“, sagte er. „Auch wenn wir nicht daran glauben, dass uns noch einmal staatlich angeordnete Güterzüge gen Osten deportieren, so lässt die mögliche Auswanderung und Flucht der Juden Europas angesichts der unaushaltbaren Situation heute die Vorstellung von einem Ende jüdischen Lebens in Europa immer realistischer erscheinen.“ Spätestens nach dem Pogrom in Amsterdam in dieser Woche müsse allen klar sein, dass sich Europa in einem neuen Zeitalter befinde – „im Zeitalter der Judenpogrome des 21. Jahrhunderts“, sagte Bindes. Es sei höchste Zeit die von Extremisten unterschiedlichster Couleur entfachten Flammen zu löschen, „bevor sie unser Haus in Schutt und Asche legen“. Passend dazu, jedoch unabgesprochen, brachte das Alte Schauspielhaus, nur wenige Hundert Meter entfernt, an diesem Abend Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ auf die Bühne.
„Wir wollen ,Nie wieder’ nicht nur hören, sondern sehen“
Die Flammen löschen könne man nur gemeinsam, sagte Bindes. Die Juden bräuchten breite Unterstützung. Worte alleine seien aber zu wenig, betonte der Vertreter der jüdischen Studierenden: „Es reicht nicht, ein oder zwei Mal im Jahr gewohnheitsmäßig ,Nie wieder!‘ zu sagen: „Wir wollen kein ,Nie wieder!‘ mehr hören, wie wollen ein ,Nie wieder!‘ endlich sehen.“ Zugleich mahnte Bindes, sich stärker für die Demokratie einzusetzen: „Die aktuellen politischen Entwicklungen werfen unter uns jungen Jüdinnen und Juden Skepsis auf.“ Verhältnisse wie in Weimar, die zum Untergang führten, dürften sich nie wiederholen: „Es liegt an uns allen, alles daran zu setzten die Menschen für die Demokratie zurückzugewinnen.“