Das neue Talkformat unserer Zeitung hat das Ziel, Sportstars abseits des Profifußballs eine Plattform zu bieten. Bei der zweiten Veranstaltung geben Kugelstoßerin Alina Kenzel und Zehnkämpfer Leo Neugebauer im Cannstatter „Gottlieb“ höchst interessante und unterhaltsame Einblicke in ihr Athleten-Leben, aber trotzdem nicht alles preis.
Alina Kenzel und Leo Neugebauer haben es über Weihnachten etwas ruhiger angehen lassen, das Fest im Kreis ihrer Familien gefeiert. Umso mehr gingen sie am Freitagabend aus sich heraus. Bei der zweiten Veranstaltung von „Gespräche im ‚Gottlieb’ – Stuttgarter Sportstars hautnah“, der neuen Talkreihe von „Stuttgarter Nachrichten“ und „Stuttgarter Zeitung“, gaben die beiden Weltklasse-Leichtathleten höchst interessante und unterhaltsame Einblicke in ihr Leben. Und verrieten auch das eine oder andere Geheimnis. „Ist das Schmuckstück neu?“, fragte der Zehnkämpfer seine VfB-Kollegin mit einem schelmischen Blick auf den Ringfinger ihrer linken Hand – und die Kugelstoßerin antwortete lächelnd, dass sie sich neulich im Florida-Urlaub verlobt habe.
Anschließend übernahm in der bis auf den letzten Platz besetzten Cannstatter Café-Bar wieder Sportredakteur Dirk Preiß die Rolle des Moderators, und gleich danach ging es erneut um einen Beziehungsstatus. Leo Neugebauer gab preis, dass er den Sprung an die Weltspitze erst geschafft habe, nachdem er vor knapp zwei Jahren mit seiner Freundin Schluss gemacht hatte. „Sie liest das hoffentlich nicht“, sagte er mit einem Augenzwinkern, „aber ich musste seither alleine den Weg durchs Leben finden und habe mehr trainiert. Das hat der Leistung gut getan.“
Alina Kenzel und Leo Neugebauer: Großer gegenseitiger Respekt
Dieser Satz ist, verglichen mit der Realität, eine ziemliche Untertreibung. Denn Leo Neugebauer (24) ist der neue Superstar des Zehnkampfs. Er verbesserte nicht nur den deutschen Rekord von Jürgen Hingsen auf 8961 Punkte, er reiste zudem als Nummer eins der Weltrangliste zu den Olympischen Spielen nach Paris. Auch im Stade de France zeigte er einen starken Wettkampf, sicherte sich hinter dem Norweger Markus Rooth Silber – und musste danach immer wieder die Frage beantworten, wie enttäuscht er denn sei? „Natürlich hätte ich Gold gewinnen können, es haben nur 48 Punkte gefehlt“, sagte Leo Neugebauer nun im Rückblick, „aber ich bereue nichts, denn ich habe in Paris so viel gelernt. Und mein Ziel war eine Medaille. Dass ich Silber geholt habe, darüber bin ich unglaublich glücklich.“ Was der ehemaligen U-20-Welt- und U-23-Europameisterin Alina Kenzel (27) ein großes Lob entlockte: „Die Erwartungshaltung an Leo war vor den Olympischen Spielen unglaublich hoch. Er hatte so großen medialen Druck, dass er sich mit Silber so fühlen darf, als hätte er Gold gewonnen.“ Für sie selbst galt das sogar, ohne auf dem Treppchen gestanden zu haben.
Zwei schwere Corona-Infektionen haben das Leben der Kugelstoßerin verändert. Sie litt unter Erschöpfungssymptomen, Schwindel und Taubheitsgefühlen, bekam keine Luft, konnte kaum aus dem Bett aufstehen. Ein Jahr benötigte sie, um sich in den Alltag zurückzukämpfen, ein zweites Jahr, um nach einer Lungen- und einer Bauch-Operation ihre Karriere neu zu starten. Weshalb sich schon die Qualifikation für Paris anfühlte wie ein Olympiasieg. Im Stade de France erreichte Alina Kenzel das Finale, wurde Neunte. „Ich hatte viele Zweifel und Existenzängste, doch am Ende ist ein Traum in Erfüllung gegangen“, sagte die VfB-Athletin, die aufgrund der Corona-Folgen immer noch Medikamente nehmen muss, „für diesen Traum hat sich der Kampf gelohnt. Und auch dafür, meinem Umfeld, das mir immer vertraut, mich stets unterstützt und immer wieder aufgefangen hat, etwas zurückgeben zu können.“ Es waren Worte, nach denen auch Leo Neugebauer schluckte. „Krass“, meinte er, „nach dieser Geschichte besser zu sein als je zuvor, das verdient den allergrößten Respekt.“
Liebeserklärung an den Zehnkampf
Es gibt allerdings noch einen Grund, warum dieser verregnete August-Abend in Paris für Alina Kenzel unvergesslich bleiben wird. Sie erlebte aus nächster Nähe mit, wie ihre enge Freundin Yemisi Ogunleye im letzten Versuch Gold holte. „Ich hatte Gänsehaut, habe mich fast mehr gefreut als sie selbst“, sagte Alina Kenzel, „es war unglaublich und eine verrückte Erfahrung, erleben zu dürfen, wie wir beide unsere maximale Leistung geschafft haben. Yemisi hat eine unglaubliche Power, wie sie sich mit ihrer Stärke und ihrem Glauben präsentiert, ist herausragend. Sie hat eine Botschaft, deshalb war sie genau die Richtige für diesen großen Sieg.“
Zugleich zeigten diese Sätze, mit welcher Leidenschaft, Freude und Hingabe Alina Kenzel ihren Sport betreibt. Was natürlich auch für Leo Neugebauer gilt. Der Modellathlet, der den Jahreswechsel in Kamerun, der Heimat seines Vaters, feiern wird, wollte zwar nicht verraten, in welcher der zehn Disziplinen er zuletzt in den Wettkämpfen immer besser geworden ist, ohne sie zu trainieren, dafür erklärte er die Faszination Zehnkampf: „Wir sind bei jedem Großereignis zwei volle Tage im Einsatz. Am Ende hat der Körper zwar keine Energie mehr und der abschließende 1500-Meter-Lauf ist echt hart – aber dieses Erlebnis, dass ein Wettkampf so lange dauert, gibt es in keiner anderen Disziplin.“ Und die Marke von 9000 Punkten kann ebenfalls nur im Zehnkampf überwunden werden. Bald auch von einem VfB-Profi?
Diese Schallmauer sei „direkt um die Ecke“, meinte Leo Neugebauer, dessen Jugendcoach Hans-Joachim Budach, der ihn bis zu seinem Wechsel ans College nach Austin/Texas im Jahr 2019 geformt hat, ebenfalls im „Gottlieb“ war. Im Juni, beim deutschen Rekord, habe nicht viel gefehlt: „Ich hatte in dem Wettkampf nur eine persönliche Bestleistung – das zeigt das Potenzial, das in mir steckt.“ Dieses ist auch Vertretern anderer Sportartarten schon aufgefallen.
Wechsel zum American Football?
Die Texas Longhorns sind im College-Football eine große Nummer, weshalb Leo Neugebauer, der auch nach seinem bestandenen Wirtschaftsstudium weiterhin an der University of Texas trainieren wird, immer mal wieder Angebote zu einer Probeeinheit erhalten halt. „Ich bringe die Voraussetzungen mit, die im American Football gesucht werden“, sagte das Kraftpaket – und verriet ein letztes Geheimnis: „Es gab schon Gespräche, die Longhorns wollten mich haben. Doch ich werde beim Zehnkampf bleiben.“