Theater Premiere in Stuttgart Gott schläft, und der Mensch muss weiterleben

Lamettaseligkeit hinter geöffneten Schwingen des Bundesadlers: Szene aus Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ im Schauspielhaus Stuttgart Foto: Julian Baumann

Wolfgang Borcherts Antikriegsdrama „Draußen vor der Tür“ wird im Schauspiel Stuttgart zur Nummernrevue mit goldenem Bundesadler und Lametta. Ist das Konzept der Regisseurin Sapir Heller aufgegangen?

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Ein Mann kommt nach Deutschland, und er hat ein Problem. Er versteht die Welt nicht mehr. Warum ist alles so grässlich? Warum herrscht immer und überall Krieg? Seit der Geburt der Tragödie suchen verzweifelte Helden nach Antworten. In Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ ist es der Kriegsheimkehrer Beckmann, er klopft an Türen und hofft auf Antwort. In der Inszenierung der in Deutschland lebenden israelischen Regisseurin Sapir Heller (35) im Schauspielhaus Stuttgart ist diese Tür der schwarz und golden gefiederte Brustkorb eines imposanten Bundesadlers, den Bühnenbildnerin Valentina Pino Reyes entworfen hat. Stößt der Held die Schwingentür auf, blickt er auf eine vergnügungssüchtige Nachkriegslamettawelt. Fragen werden nicht beantwortet, die Wahrheit hat auch gerade keine Konjunktur.

 

Borcherts viel gespieltes Drama

Die Regisseurin lässt zunächst noch einen Nachfahren von Beckmann auftreten. Der Schauspieler Simon Löcker sitzt auf der Schulter des Adlers und berichtet von seinem Opa, der sich mit 85 Jahren das Leben genommen habe. Er beschließt, die Vergangenheit zu erforschen, springt hinab auf die Bühne, hinein in die Geschichte. Was etwas gezwungen wirkt angesichts allgegenwärtiger Kriege, die auch so schon plausibel machen, warum ein Nachkriegsstück 2024 aktuell ist. Anders als der ironiebegabte Borchert im Untertitel vermutete – „Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“ – , wird das einzige Drama des einen Tag vor der Uraufführung 1947 gestorbenen Autors durchaus oft gespielt.

Immerhin ist mit diesem Beckmann-Nachfahren die sonst häufig im Vagen gelassene Frage, ob sich der Held erfolgreich in die Elbe stürzt oder weiterlebt, beantwortet. Das junge Regieteam, Sapir Heller und der frisch ans Schauspiel Stuttgart engagierte Dramaturg Benjamin Große, halten sich an den Text, stellen jedoch das Vorspiel um, bei dem sich Tod und Gott begegnen. Es soll nicht gleich klar werden, dass Beckmann auch ohne metaphysisches Obdach ist und realisiert: „Hier unten kein Menschenohr. Da oben kein Gottesohr. Gott schläft.“ Der um seine „Kinnn-derrr, Kinnn-derrr“ greinende Gott (Boris Burgstaller) busselt sich daher erst gegen Ende mit dem Tod (Sebastian Röhrle) ab. Der hat angesichts der vielen Kriege ziemlich viel Fett angesetzt und ist magenkrank, muss dauernd fies aufstoßen, während er aus dem Saal auf die Bühne marschiert.

Heller und Große lassen außerdem Boris Burgstaller als tätowierten Securitytypen auftreten und von Schnaps schwärmen, den bei Borchert Beckmann bei seinem Besuch beim Oberst klaut und trinkt. Der Stuttgarter Beckmann bleibt abstinent, ein Schmerzensmann der heutigen jungen Generation Z. So grundgut, grundverzweifelt und ganz um jegliche Entwicklung gebracht, hangelt sich Simon Löckers Beckmann tapfer das Immergleiche fragend von Szene zu Szene.

Beckmann (Simon Löcker, li.) will beim Oberst (Sebastian Röhrle) die Verantwortung für die Toten abgeben. Vergebens. Foto: Schauspiel Stuttgart/Julian Baumann

Beckmann also, zurück in Hamburg nach tausend Tagen Sibirien, fragt allerlei Leute, wie er Erlösung finden könnte von der Schuld, die er als Unteroffizier im Zweiten Weltkrieg auf sich genommen hat. Aus dieser Tour der Leiden macht die Regie eine Nummernrevue. Wobei das einzige Lied aus dem Drama, die Melodie der „tapferen kleinen Soldatenfrau“, durch Jacques Brels Chanson „La Mer“ ersetzt wird und Simon Löcker es mehr spricht als singt.

Verkrampfte Lockerheit

Stationendrama stößt auf Liederabend, so eine Kurzschlussdramaturgie erhofft sich ein künstlerisches Funkenschlagen. Das Konzept funktioniert erst mal: aus dem Leidensschwarzbrot Biskuit machen, wie der Kabarettdirektor sagen würde, bei dem Beckmann vergeblich wegen Arbeit vorspielt. Worüber man nicht reden kann, darüber wird gesungen - und gezeigt, worum es Borchert ging: das Vergessenmachenwollen der deutschen Geschichte thematisieren. Gleichzeitig wirkt die verordnete fidele Lockerheit oft verkrampft, wie mit angezogener Handbremse ausgeführt, als hätte man Angst, den durch und durch positiven Helden zu stürzen.

Manchmal aber funkt und funkelt es tatsächlich, böse, witzig irre. Sebastian Röhrles zynischer Oberst, der es lieber „mit der guten alten deutschen Wahrheit“ (sprich: Verdrängung, Leugnung) hält, poltergeistert zu Brachialmusik über die Bühne und lacht sich schief, als Beckmann ihm seine Todesträume erzählt und die Verantwortung für seine Taten im Krieg aufladen will.

Beckmann (Simon Löcker, li.) will schlafen, doch Der Andere (Anke Schubert) sagt, er soll leben. Foto: Schauspiel Stuttgart/Julian Baumann

Abgründig charmant wird es, wenn Tim Bülow sich mit Schaumkronenturban auf dem Kopf aufs Klavier des Musikers Alexander Vičar setzt und mit gemeinem Lächeln die gefühlseiseskalte Elbe spielt. In deren Wellenarme hatte sich Beckmann stürzen wollen, doch die Elbe schubst ihn ans Ufer: „Einfach so ins Wasser jumpen? Ich will dein armseliges Leben nicht. Du bist mir zu wenig, mein Junge. Lebe erst mal.“ In die Kerbe haut auch „der Andere“ (Anke Schubert), Beckmanns meist lebensbejahendes Alter Ego. Erinnert an den Holocaust, daran, dass nicht nur sein Juden hassender Vater und die Mutter sich mit Gas umgebracht haben: „Doch da waren auch sechs Millionen. Abgewandert in die Massengräber. Wer fragt danach? Und wer wird morgen danach fragen, Beckmann?“ Das sitzt. Stillschweigen von Beckmann, beklemmend aktuelles Schweigen.

Der große Funkenschlag ist, weil vielfach allzu gesittet gesungen und getanzt wird, am Premierensamstag noch ausgeblieben. Die zutiefst menschliche Verzweiflung angesichts der bis heute nicht aufhörenden Kriege, die der junge Held ins Dunkel des Zuschauerraums hinein schreit, sie wirkt nach.

So geht’s weiter im Schauspiel Stuttgart

Draußen vor der Tür
Sapir Hellers Inszenierung des Dramas von Wolfgang Borchert dauert rund 100 Minuten und ist im Schauspielhaus wieder am 5., 11. ,15., 22. November, am 9., 27. Dezember und am 12. und 18. Januar zu sehen.

Der Bau
Kafkas Text, inszeniert und gespielt von Max Simonischek im Kammertheater, wird am 12. November um 20 Uhr, wieder aufgenommen.

Nostalgia up & down und Weiße Elefanten
Von Zensur und Repression in Deutschland und Rumänien handelt das Gastspiel von Citizen.KANE.Kollektiv & Theater REPLIKA am 29. November um 18 Uhr im Kammertheater.

Pünktchen und Anton
Die Dramatisierung von Erich Kästners Roman in der Regie von Karsten Dahlem feiert am 24. November um 16 Uhr Premiere, es gibt nur noch Restkarten. Weitere Infos www.schauspiel-stuttgart.de

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