Der Sohn unseres Redakteurs kam mit einem schweren Herzfehler zu Welt. Trotz guter Prognose starb Milo vor einem Jahr. Was macht der frühe Tod eines Kindes mit den Eltern – und wie können Angehörige, Freunde und Kollegen helfen?
Am frühen Morgen des 31. Januar 2024 wird mein Sohn Milo unter ständiger Herzmassage in einen Krankenwagen getragen und ich höre die Vögel zwitschern, ausgerechnet. Als würden sie für den 39 Tage alten Säugling im Wärmekasten singen. Laut sind sie, fast penetrant, und an einem 31. Januar zwitschern frühmorgens doch nicht die Vögel, denke ich mir noch. Wenig später denke ich gar nichts mehr. Milo ist tot.
Niemand will so etwas erleben. Aber es passiert. Wer begreift, was es bedeutet, kann Trauernden vielleicht besser helfen.
Ein Horrorfilm, der immer wieder läuft
Ich erlebe das Trauma dieser Nacht immer wieder, es ist ein Strom von Bildern und Gefühlen, jedes Mal ähnlich stark. Oft läuft dieser Horrorfilm in den Minuten vor dem Einschlafen. Wieder und wieder halte ich das schreiende Kind auf dem Arm, das immer leiser wird, als würde man den Lautstärkeregler herunterdrehen, bis auf Null. „Milo atmet nicht mehr“, sage ich dann zu meiner Frau, die den Notruf am Telefon hat.
Ich verdränge diese Bilder nicht. Milos Tod ist jetzt ein Teil meines ansonsten sehr guten Lebens, und ich will es weiterleben. Dennoch kommt jedes Mal, wenn ich an diesen 31. Januar denke, die Verzweiflung wieder hoch, die schiere Überwältigung angesichts des Unvorstellbaren, einen plötzlich leblosen Säugling in meinen Händen zu halten. Im nächsten Moment dieses Films stürmen Notärzte in unser Schlafzimmer, verwandeln Bett und Wickelkommode in ein Behelfskrankenhaus. Dann zwitschern die Vögel, wenig später führt uns die Ärztin im Olgahospital zum Bett, in dem unser eben noch lebendiger Sohn liegt, bleich und ganz still.
Wie man helfen kann
Was macht man, wenn so etwas passiert? Als Angehörige, Freunde, Bekannte, Kollegen? Ich schlage eine einfache Antwort vor: Mensch sein und es zeigen. Viele haben meiner Frau und mir geschildert, dass es ihnen schwerfällt. Weil sie nicht wissen, wie man trauernde Eltern anspricht – ob sie es überhaupt tun sollen. Der Tod eines Kindes ist kein Tabu oder sollte zumindest keines sein. Aber man will ja auch nichts falsch machen.
Dabei gibt es nichts falsch zu machen, weil so ein Erlebnis den Eltern den Boden unter den Füßen wegzieht. Sie machen sich danach keine Gedanken darüber, ob oder wie sie von wem angesprochen werden. Im Olgahospital gibt es für die ersten Stunden nach dem Tod eine Art Protokoll, um Eltern zu begleiten. Der Leichnam wird ordentlich angezogen, man kann mit bereitgestellter Farbe Fußabdrücke nehmen, solche Dinge. Am Olgäle arbeiten auch sehr gute Krankenhausseelsorger. Und doch hilft in dieser Phase jeder Anruf, jede Nachricht, jede Karte, jedes Zeichen von Mitgefühl, egal wie gut man sich kennt.
Ein Kollege schreibt mir zwei Tage nach Milos Tod, ich solle mir meine fröhliche und offene Art erhalten, die er an mir so schätze. Offen und fröhlich sein – das scheint mir in diesem Moment unvorstellbar, ich muss bitterlich weinen. Aber ich fühle die Wärme in diesen Worten. Sie tut so gut und ist ein Ansporn. Auch über die Familie hinaus nicht sprachlos und allein zu sein mit meiner Trauer, das legt sich in den Tagen nach Milos Tod wie ein Kokon um mich. Er hilft mir im Gefühl völliger Auflösung, mich Stück für Stück wieder zusammenzusetzen.
Er weint so selten
Milo wird an Heiligabend 2023 geboren. Schon vor der Geburt ist im Ultraschall ein Herzfehler erkennbar, gleich nach der Geburt folgt die Diagnose. Vereinfacht gesagt fließt das Blut nicht so, wie es soll, und eine der beiden Herzkammern ist zu klein. Deshalb pumpt Milos Herz weniger sauerstoffreiches Blut durch den Körper. Wenige Tage nach der Geburt ist die erste Operation notwendig.
Die ersten vier Wochen seines Lebens verbringt er im Olgahospital mit meiner Frau, unsere Tochter und ich sind tagsüber als Besucher da. In den Stunden, die ich mit Milo allein verbringe, betrachte ich sein Grübchen am Kinn, das er von mir und meinem Opa Jakob geerbt hat, dessen Namen er ebenfalls trägt. Doch seine flache Atmung und ein ständiges Piepsen lenken mich ab. Ein Gerät misst, wie viel Sauerstoff in Milos Blut ist. Mal piepst es ruhig und gleichmäßig, mal laut und hektisch, dann kommt eine Krankenschwester und schaut nach ihm. Milo ist geduldig, nimmt alles einfach hin. Er weint so selten, wenn er mal wieder eine Nadel in den Arm bekommt, ins Bein, in die Hand, irgendwann sogar in die Kopfhaut, weil die anderen Stellen zerstochen sind. Er will viel mehr trinken, als er darf, und schreit trotzdem fast nie. Ich bilde mir ein, dass ich ihm sogar beibringe, mir die Zunge herauszustrecken, wenn ich ihm meine zeige.
Atme, Milo, atme
In die Freude über das Kind mischt sich dieses ständige Piepsen. Immerzu schaue ich auf Milos Brustkorb. Heben, senken, heben, senken, Pause. Atme, Milo, sage ich, du musst atmen, und halte selbst die Luft an. In diesen Momenten kriege ich eine Ahnung davon, wie prekär das Leben eines Kinds mit Herzfehler ist und damit auch das seiner Familie. Wie halten Eltern, Geschwister, Großeltern diese ständige Angst aus? Von den Patienten ganz zu schweigen.
0,8 Prozent aller in Deutschland lebend geborenen Kinder kommen mit Herzfehler zur Welt, das sind rund 6000 jedes Jahr. Dank des medizinischen Fortschritts schaffen es viele bis ins Erwachsenenalter. Ein Erfolg? Unbedingt. Ebenfalls Teil der Wahrheit ist, dass Menschen mit Herzfehler häufig früher sterben. Sie müssen regelmäßig zum Arzt oder ins Krankenhaus. Milo hätte über die Jahre wahrscheinlich dreimal operiert werden müssen, doch sein Herz wäre immer noch nicht normal gewesen: ein ganzes Leben als Patient.
Die Berichte darüber machen mir Angst
Was das für die Familien bedeuten kann, wird in vielen Reportagen und Dokumentationen geschildert. Ich habe sie bis zu Milos Tod allesamt nicht angeschaut und nicht gelesen, denn sie haben mir Angst gemacht. Diese Angst ist, soweit ich das nach Milos kurzem Leben sagen kann, berechtigt. Keine betroffene Familie mit herzkrankem Kind kann sie wegschweigen. Deshalb sollte ihr Umfeld es auch nicht tun. Jedes Wort des Mitgefühls, vielleicht auch der Bewunderung, hilft Eltern, die mit dieser ständigen Angst leben und einen relevanten Teil ihres Alltags mit dem Kind in Arztpraxen und Krankenhäusern verbringen.
Ein beinahe lebensgroßes Bild im Esszimmer zeigt Milo an einem seiner acht Tage bei uns daheim, wie er auf der Wickelkommode liegt. Er scheint in die Ferne zu blicken. Babys wirken auf mich oft geradezu weise. Sie nehmen die Welt anders wahr – wie, weiß keiner. Jedenfalls denken sie nicht in Worten, weil sie noch keine haben. Aber sie sind vollständige Menschen. Wir können sie anschauen, und ich sehe in Milo einen ganz starken Menschen, der leider nicht mehr auf unserer Welt sein darf.
Ich vermisse ihn und spüre mein eigenes Herz
Wenn ich Milos Bild betrachte, vermisse ich ihn. Und ich spüre mein eigenes Herz. Tok, tok, tok, pumpt es Blut und Sauerstoff durch meinen Körper. Es kommt auf jeden einzelnen Herzschlag an. Das Licht meiner Welt kann so schnell ausgehen. Ich kann nicht sicher sein, dass mein Herz immer weitermacht und mein Leben nicht wie das von Milo in Sekundenschnelle ausfadet wie ein Popsong. Was ich weiß: Es ist kein sanftes Davongleiten vom Hier ins Dort. Milo hat in diesen Momenten geschrien, er war schweißnass, ein Herzinfarkt vermutlich. Es gibt keinen schönen Tod.
Milos Geschichte ist so unendlich traurig. Sie macht mich auch beim hundertsten Erzählen traurig. Ich sehe für mich nur den Weg, stärker zu werden, um dieses Paket schultern zu können. Man kann es nicht später im Leben irgendwo abstellen und stehen lassen.
Aber man kann darüber sprechen, und bis heute macht mich jedes Gespräch und jedes Zeichen von Mitmenschlichkeit ein kleines Stückchen stärker. Milo ist in diesen Momenten ein Stückchen bei uns. Weitermachen, trotz allem, ist eine der Sachen, die wir Menschen besonders gut können.
39 Tage mit Milo auf dieser Welt werden zu 39 Herzen auf dem Bild, das Milos fünfjährige Schwester am Morgen seines Todes für ihn zum Abschied malt. Am Ende dauert es ihr zu lange, 39 Herzen zu malen. 39 Tage, denke ich, immerhin.
Anlaufstellen
Pro Familia
bietet Beratung für Eltern sowie, in Kooperation mit der Hebamme Katrin Neher, Rückbildungskurse für Mütter von Sternenkindern an. Informationen unter www.profamilia.de
Veid
Der Bundesverband Verwaiste Eltern und Geschwister in Deutschland (Veid) gibt Informationen und Anregungen für Betroffene und Begleitende: www.veid.de
Hospiz
Auch Hospize können für verwaiste Eltern eine Anlaufstelle sein, so etwa das Trauerzentrum des Hospiz St. Martin in Stuttgart: www.hospiz-st-martin.de/angebot/trauer