Tokios führender U-Bahnanbieter ist jetzt an die Börse gegangen. Japans größter Börsengang der vergangenen Jahre zeigt, dass ein Markt für Bahnverkehr durchaus funktionieren kann – unter bestimmten Bedingungen.

Wenn Tokios U-Bahnen abfahren, ertönt immer eine fröhliche Melodie. Jede Linie hat ihren eigenen Jingle, mal inspiriert von beliebten Videospielen, mal eigens für die U-Bahn komponiert. Die Kurzmelodien sollen beruhigen, das Stresslevel der Passagiere reduzieren. Immerhin quillen die Waggons in der mit 37 Millionen Menschen größten Metropolregion der Welt jeden Morgen vor Fahrgästen über. Die positiven Liedchen machen das Ganze erträglicher.

 

In dieser Woche traf das nicht nur auf die Abermillionen Passagiere zu, sondern auch auf zahlreiche Investoren. Denn Tokyo Metro, der älteste U-Bahnbieter der japanischen Hauptstadt, ist an die Börse gegangen – und hat bei denen, die sich gleich am ersten Handelstag ein paar Aktien gekauft haben, die Kassen klingeln lassen. Um rund 45 Prozent sind die Wertpapiere im Kurs gestiegen. Tokyo Metro hat damit umgerechnet 2,1 Milliarden Euro eingenommen. Und Japan ist begeistert.

Immerhin war es Japans größter Börsengang der vergangenen sechs Jahre. Und mit dem eingenommenen Geld gibt es schon große Pläne. Der japanische Staat, der zu den Eignern gehört, will mit den Erlösen seiner Verkäufe Schulden begleichen, die er für das Erdbeben, den Tsunami und die Reaktorkatastrophe 2011 im Nordostjapan aufnehmen musste. Damals starben rund 20 000 Menschen und 300 000 verloren ihr Zuhause. In der Region wurde danach maßgeblich auch in Bahnstrecken investiert.

Tokyo Metro will nun in sein Kerngeschäft investieren: Es managt 195 Kilometer Bahnlinien, auf denen täglich 6,5 Millionen Passagiere befördert werden. Nebenbei ist das Unternehmen im Immobiliensektor und Einzelhandel tätig. Die Aktie ist eine gute Investition, glaubt Travis Lundy, Analyst bei der Plattform Smartkarma, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: „Es ist ein bekanntes, etabliertes Unternehmen mit stabilem Geschäft, das hohe Erträge liefert und Begeisterung erzeugt.“

Es ist eine Beschreibung, die man aus europäischer Perspektive nicht gerade von einem Bahnanbieter erwarten würde. Überhaupt dürften sich viele fragen: Was will ein Anbieter von Lokalverkehr überhaupt an der Börse, wo die Preise täglich steigen und fallen, oft auf kaum rationale oder gar beeinflussbare Weise? Ist es nicht ein unnötiges Risiko, das Tokyo Metro da eingegangen ist?

In der Volkswirtschaftslehre gilt der Bahnverkehr als Paradebeispiel für sogenannte natürliche Monopole: Indem die anfänglichen Investitionen in Form von Bauarbeiten für Gleise und die Anschaffung von Zügen horrend sind, ist das Geschäft von sehr hohen Eintrittshürden geprägt. Daraus folgt die Annahme, dass Wettbewerb zwischen verschiedenen Unternehmen im Bahnsektor kaum funktionieren würde. Stattdessen müsste der Staat diesen Sektor finanzieren.

Gescheiterte Beispiele von Bahnprivatisierungen kennt man in Europa nur zu gut. Als Großbritannien seine Züge privatisierte, stiegen die Preise, während die Pünktlichkeit abnahm. Die Deutsche Bahn regt die Menschen in Deutschland seit langem auf, weil die Züge derart unzuverlässig sind, dass Menschen ihre Reisen kaum noch planen können.

Aber in Japan? Da sind die Züge fast immer rechtzeitig, obwohl die Bahnen schon seit Jahrzehnten privatisiert sind. Und vor allem in Tokio lässt sich beobachten, unter welchen Umständen eine Bahnprivatisierung funktionieren kann. Anders als in Großbritannien oder Deutschland besteht hier echter Wettbewerb auf den Gleisen: Tokios riesiges Bahnnetzwerk wird von zwei Handvoll Anbietern betrieben.

Wer den Tokioter Verkehr einmal erlebt hat, versteht schnell die Sinnhaftigkeit dahinter. Für jede Strecke haben Kunden mehrere Optionen, die durch Apps vorgeschlagen werden. Indem die höher frequentierten Bahnstationen jeweils von mehreren Anbietern angefahren werden, ermöglichen Ticketschranken unkompliziertes Umsteigen gegen kleine Aufpreise. Um die Kosten niedrigzuhalten, versuchen Passagiere möglichst, nur die Linien eines einzigen Anbieters zu nutzen. Aber dann dauert die Reise oft länger.

In der Transportwissenschaft gilt Tokio als Positivbeispiel für Bahnprivatisierung – weil es echten Wettbewerb gibt. Die Anbieter müssen Pünktlichkeit leisten, konkurrieren zudem über Preise. Wobei für all das kaum ein Ort so günstige Bedingungen hat wie Tokio – wegen der schieren Masse an Menschen. Der Bahnhof Shinjuku im westlichen Zentrum – der auch von Linien der Tokyo Metro angefahren wird – befördert täglich 3,5 Millionen Menschen. Shibuya, Ikebukuro und Tokyo erreichen ein ähnliches Niveau. Zudem ist es ein Verdienst der Bahnbetreiber, dass die Menschen der Bahn vertrauen – sie ist das am häufigsten genutzte Transportmittel der Metropole. Denn wenngleich die Bahnen jeden Morgen praktisch überquellen, ist dies die sicherste Art, pünktlich zur Arbeit zu kommen. „Den Leuten hier ist ziemlich klar, dass die Bahn das schnellste und zuverlässigste Transportmittel ist“, erklärt Takeshi Yoshizako von der Umweltbehörde Tokios.

Wenn eine Bahn doch mal eine Verspätung hat, bieten die Anbieter übrigens ein „chien shoumeisho“ an, also ein Zertifikat, das in elektronischer oder gedruckter Form bestätigt, dass die Verspätung nicht die Schuld des Passagiers war. Dann ist man gegenüber dem Arbeitgeber fein raus.