Gewalt ist alltäglich: für Menschen mit Fluchterfahrungen, in Kriegen weltweit und sogar innerhalb der Familie, wie Daten zum sexuellen Missbrauch oder Taten wie kürzlich der Mord in Albstadt immer wieder offenbaren. Wie kann es dazu kommen? Welche Folgen hat das? Die profilierte Konstanzer Psychologin Maggie Schauer ist auf Trauma spezialisiert und hat weltweit Menschen mit ihrer narrativen Expositionstherapie behandelt .
Frau Schauer, wie entsteht Trauma?
Lange glaubte man, Trauma, also eine Wunde der Seele, entstünde durch die Einwirkung eines einzelnen schrecklichen Ereignisses: Ich erlebe eine stark aufregende Situation, bin hilflos und habe Angst. Heute wissen wir, es ist mehr. Überwältigungen und Verletzungen mehren sich, ein solcher Moment setzt sich auf den anderen. Traumafolgen entstehen vor allem, wenn das noch vor dem Erwachsenenalter geschieht.
Sie haben in Kriegsgebieten, mit Folteropfern und Geflüchteten gearbeitet – aber Trauma kann auch durch harmlosere Alltagserlebnisse entstehen?
Ja, denn die sind oft nur scheinbar harmlos. Und häufig kommen sie schon aus der Elterngeneration. Es sind immer die Menschen, von denen wir abhängen und die wir lieben, die uns am meisten antun können. Trauma ist, wenn ich eine Bezugsperson habe, die mich immer abweist, oder einen Partner, der gewalttätig spricht und agiert. Krieg, Missbrauch oder Kidnapping sind offensichtlich schreckliche Erfahrungen, aber auch jenseits so klarer Fälle können wir Traumatisierungen erkennen. Mobbing in der Jugend kann schwerwiegende Folgen haben. Zur Kindheit fragen wir: Gab es eine erwachsene Bezugsperson, die schwer zufriedenzustellen war? War eine der im Haushalt lebenden Erwachsenen reizbar und schnell wütend? Gab es in Ihrer Herkunftsfamilie Geheimnisse, über die geschwiegen wurde? Die ständige Angst, wenn etwas in der Luft liegt, lässt unsere Stressachse nicht zur Ruhe kommen. Das hat verheerende Folgen.
Wie äußern sich die?
Es kann zu einem ganzen Spektrum von psychischen und körperlichen Folgen und Erkrankungen kommen. Wenn Sie einen schlimmen Skiunfall hatten, sehen Sie vielleicht immer wieder, wie der Skifahrer in Sie reingerast ist – in Flashbacks. Aber wenn Sie Eltern hatten, die Sie beschimpft und erniedrigt oder Sie einfach nicht gesehen haben, werden Sie später eher depressive Symptome entwickeln mit inneren Überzeugungen, wie: „Ich bin wertlos.“ Sie greifen dann vielleicht zu Suchtmitteln, um Spannungsgefühle loszuwerden. Wir wissen heute, dass Trauma ganz unterschiedliche Folgen haben kann, auch Zwänge, Ängste, Psychosen und viele körperliche Krankheiten wie Magen-Darm- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Wer traumatisiert ist, wird sicher erst mal nicht darüber sprechen können.
Genau. Trauma macht sprachlos. Deshalb brauchen wir sichere Herangehensweisen, um es ausheilen zu können. Wir gehen am Anfang Schritt für Schritt eine Liste durch mit potenziellen Traumata. Das kann jeder schaffen. Die Betroffenen können neutral beschreiben: Ja, das kenne ich, das war damals an diesem Ort, als ich acht Jahre alt war. Das ist der erste Schritt. Wenn ich es benennen, in Worte fassen kann, ist es nicht mehr überall und überwältigend.
Was passiert bei Trauma im Gehirn?
Heute wissen wir, dass bei Traumatisierung eine Veränderung der Gedächtnisrepräsentation stattfindet. Die heißen, emotional-körperlichen Elemente werden vom sogenannten kalten Gedächtnis, dem „Wann“ und „Wo“ abgespalten. Die Bedrohung und der Schmerz bleiben dann im Hier und Jetzt. Reale Angst ist von pathologischer Angst nicht mehr zu unterscheiden. Die Bilder und Gefühle sind kaum kontrollierbar. Es gibt keine Entlastung und keine Auflösung.
Aber die Erzählung kann dann Ordnung hineinbringen?
Menschen sind Geschichtenerzähler. So organisieren wir unsere innere Welt. Traumaerlebnisse verweigern sich dem. Im Trauma sind wir einsam. Hier brauchen Überlebende gute Zuhörer, die helfen, das Geschehene Stück für Stück in Worte zu fassen, gerade an den Stellen, wo es am meisten weh tut. Deswegen ist Erzählung ein wunderbares Mittel. Wenn ich die Geschichte vom Helden erzählen will, muss ich ihn noch einmal durch diese Welt laufen lassen. Aber diesmal nicht alleine, sondern im Schulterschluss mit dem Therapeuten. Jetzt binden wir die heißen Elemente wieder zu den kalten Fakten. Damit hört das ungewollte Wiedererleben auf.
Wie viele Menschen sind in Deutschland traumatisiert? Gibt es dazu Zahlen?
Ja, aber die Frage ist, wie aussagekräftig die sind. Sie müssen das Dunkelfeld sehen. In vielen Ländern dieser Welt gibt es eine andauernde Traumaeinwirkung. Zum Beispiel in Townships, in Favelas, in allen Lebensumfeldern von Armut und Gewalt, auch in Deutschland. Dann sind die Traumaraten erschreckend hoch. In jeder Schulklasse sitzen mindestens ein bis zwei Kinder, die sexuellen Missbrauch erleben, das ist dokumentiert. Die Folgen sind massiv, können etwa eine Persönlichkeitsstörungen mit selbstverletzendem Verhalten nach sich ziehen.
In Albstadt hat kürzlich ein Mann seine Familie erschossen – Nachbarn und Freunde reagierten geschockt, es habe keine Anzeichen für Probleme gegeben. Sind viele Menschen, die uns im Alltag begegnen, in Wahrheit traumatisiert und potenzielle Gewalttäter?
Was dort im Speziellen vorgefallen ist, kann ich nicht beurteilen. Soweit ich weiß, war der Mann ein Jäger, der sich nach den Tötungen selbst erschossen hat. Wenn Suizid im Spiel ist, können wir fast immer davon ausgehen, dass es auf die eine oder andere Weise massiv belastende Erfahrungen in der Kindheit gegeben hat. Das ist nicht selten der Fall. Wenn ich mich umschaue, sehe ich meine Nachbarin, die in der Kindheit lebensbedrohliche Klinikaufenthalte erfahren musste, sie ist heute Pegeltrinkerin. Ich sehe einen Bekannten, der Gewalt erlebt hat durch den Vater und heute emotional immer wieder einbricht. Das muss im Einzelfall nicht ursächlich sein und unser Lebensweg ist nicht in Stein gemeißelt. Aber dank umfangreicher Forschungen können die Risiken nachgewiesen werden. Jeder von uns hat Kontakt mit Trauma in der eigenen Generation, in der Generation der Eltern oder der Großeltern – im sozialen Umfeld. Die Frage ist individuell, wie viel hat sich da schon angesammelt?
Es ist heute oft von vererbtem Trauma die Rede. Was ist das?
Was wir von unseren Großeltern und Eltern mitbekommen, ist nicht nur das Erbgut, sondern auch die Hinweise, welche Gene wir besonders aktivieren sollen und welche nicht. Wir nennen das Epigenetik. Unsere Vorfahren treffen durch ihre Erfahrungen eine Vorhersage darüber, welche Umwelt uns erwartet und auf was wir uns einstellen sollen: Ist die Welt bedrohlich? Die zweite Ebene der Weitergabe von Traumata besteht im Umgang der potenziell traumatisierten Eltern mit ihren Kindern, ihr Verhalten wirkt sich aus. Je impulsiver und inkonsistenter das Verhalten der Eltern ist, desto mehr wird die Psyche des Kindes erschüttert.
Wie lange dauert es, bis Traumatisierten in der Therapie geholfen werden kann?
Sehr effektiv für Traumabewältigung ist das Durcharbeiten der wichtigsten Momente im Leben mit Hilfe narrativer Exposition. Also in chronologischer Reihenfolge entlang der persönlichen Entwicklung alle aufregenden und belastenden Situationen der ganzen Lebensgeschichte erzählen und integrieren zu können. Man geht von sechs bis 14 Doppelsitzungen aus, die Wirkung zeigen. Es gibt eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien aus verschiedensten Ländern zu unserer Narrativen Expositionstherapie. Auch für Menschen, die gar nicht wissen, was Psychotherapie ist, die nicht lesen oder schreiben können, ist es verständlich, wenn ich sage: Erzähl mir dein Leben, und ich zeichne deine Gedanken und Gefühle zusammen mit dem Geschehen auf und lese sie dir vor.
Warum lesen Sie Ihre Aufschriebe dann noch einmal vor?
Wenn ich vom Erzähler zum Zuhörer werde, bin ich automatisch aus der Trauma-Situation herausgetreten. Der Mensch erkennt, es ist meine Geschichte, aber wenn ich sie höre, ist sie gar nicht mehr so schrecklich. Alles macht Sinn, meine Reaktionen, Gedanken, Gefühle. Ich lerne, mein jüngeres Selbst mitfühlend zu begleiten.
Kriege, Pandemie und Heimatverlust – was müssen wir tun, damit Gewalt und Trauma sich nicht immer fortsetzen?
Die Forschung hat praktische Vorschläge: Es wäre gut, wenn wir zum Beispiel bei jeder Schwangeren, ähnlich wie beim obligatorischen Zuckertest, einen Trauma-Load-Test machen, um die Belastung durch Stressoren zu erfassen, wenn wir messen, wie viele Trauma-Bausteine schon da sind. Oder, wenn eine größere Katastrophe eintritt wie das Zugunglück von Eschede, dann wäre die beste Triage, wenn man sofort unter den Überlebenden schaut, wer schon viel erlebt hat. Weil diese Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit Symptome entwickeln und Unterstützung brauchen werden. Aus meiner Sicht sollte jedem in unserer Gesellschaft ein Screening angeboten werden, um herauszufinden, wie belastet er oder sie ist. Das muss Teil eines guten, zeitgemäßen Gesundheitssystems sein. Die Vorstellung, Trauma sei selten, ist überholt. Wir brauchen die Messung individueller Traumalast ebenso wie eine Tetanusimpfung oder eine Vorsorgeuntersuchung.
Und dann? Es gibt doch jetzt schon zu wenige Therapieplätze.
Durch so ein niederschwelliges Angebot könnten wir erfahren, wer belastet ist. Für jeden einen Platz beim approbierten Psychotherapeuten zu bekommen, ist utopisch. Unser Gesundheitssystem ist überfordert. Ein Therapeut könnte aber lernen, mehrere geschulte Fachkräfte anzuleiten, die erste Schritte gehen und Anfänge in der Biografiearbeit erledigen. Damit haben wir gute Erfahrungen in anderen Ländern gemacht, haben Laien geschult, die schon in pädagogischen, sozialen oder Gesundheitsberufen arbeiten. Sie sollten aber schon im Studium oder in der Ausbildung etwas über Trauma lernen und erkennen, wenn Kinder Opfer von sexuellen Übergriffen geworden sind, wenn Geflüchtete traumatisiert sind. Das in Angriff zu nehmen, ist humanitär wie ökonomisch geboten. Wir müssen aufwachen.
Weitere Infos
Werdegang
Dr. Maggie Schauer gilt als eine der führenden Expertinnen in Deutschland für Traumabehandlung und lehrt als Privatdozentin für Klinische Psychologie an der Universität Konstanz. Viele Jahre lang leitete sie das Kompetenzzentrum „Psychotraumatologie“, das am Zentrum für Psychiatrie Reichenau angesiedelt ist. Zusammen mit ihren Kollegen Thomas Elbert und Frank Neuner hat sie die Narrative Expositionstherapie NET entwickelt. Sie forscht und arbeitet weltweit.
Buch
Maggie Schauer hat über ihre Erkenntnisse aus der Traumabehandlung ein Buch geschrieben, es erscheint am 13. August. Maggie Schauer: Die einfachste Psychotherapie der Welt – wie wir die Ursache von Stress und Krankheit behandeln und den Kreislauf von Trauma und Gewalt durchbrechen, Rowohlt, 320 Seiten, 18 Euro.