Zum 20-jährigen Jubiläum hat der Stuttgarter Chor „Gospel im Osten“ die Innenstadt mit drei Flashmobs überrascht. Doch bei aller Feststimmung schwingt auch ein ernster Ton mit.
Es ist kurz vor zehn Uhr in der Stadtbibliothek Stuttgart. Eine merkwürdige Spannung liegt in der Luft. Viele Menschen stehen scheinbar ziellos auf mehreren Etagen verteilt, tuscheln, schauen sich um. Dann, um 10.02 Uhr, erklingt eine Musik – und wie auf ein geheimes Signal beginnen Hunderte Menschen plötzlich zu singen: Kraftvoll, vielstimmig und emotional.
So startete am Samstagvormittag der erste Flashmob des Chors „Gospel im Osten“ – zur Feier ihres 20-jährigen Bestehens. Zwar waren die meisten Anwesenden selbst Teil des Chores und sie sangen nur ein Lied, doch der überraschende Gesang aus allen Etagen sorgte für Applaus und Jubel. Lange verweilen konnten die Mitglieder dort aber nicht – denn der nächste Flashmob stand bevor.
Flashmobs vor Stiftskirche und Schlossplatz begeistern Passanten
Richtig lebendig wurde es um 11 Uhr vor der Stiftskirche: Deutlich mehr Passantinnen und Passanten hatten sich hier versammelt und wurden Zeugen des zweiten Flashmobs des Gospelchors. Zunächst stimmten vier Sängerinnen mit Mikrofonen die ersten Töne an, doch nur Augenblicke später erhoben sich hunderte weitere Mitglieder auf den Treppen vor der Kirche. Die mitreißende Atmosphäre ließ viele Zuschauer spontan mitsingen oder im Takt klatschen.
Auch Elke (55) und Bernd Friedlein (71) waren zufällig vor Ort – und tief bewegt. „Ich habe feuchte Augen“, sagt Bernd. „Die Energie, die da rüberkam, war sensationell.“ Auch Elke hat der Flashmob berührt, insbesondere „die Musik und das Gemeinsame. Dass wirklich unterschiedliche Menschen einfach zusammenkommen und singen.“
Die jüngeren Zuschauer waren ebenfalls beeindruckt: Jonas (17) und Julian (20), deren Eltern im Chor mitsingen, waren begeistert von der Atmosphäre. „So etwas muss man einfach mal miterlebt haben“, sagt Jonas. Für Julian war es besonders die Stimmung, die ihn mitriss: „Die Leute, die einfach die Emotionen genießen. Das finde ich mega zu erleben.“
Den Abschluss bildete um 11.20 Uhr der dritte Flashmob auf dem Schlossplatz – dem belebtesten Ort des Vormittags. Trotz des Trubels durch das Familienfest, einer unmittelbar bevorstehenden Mountainbike-Show und den Wochenendeinkäufen, versammelten sich rund 750 Sängerinnen und Sänger auf den Treppen vor dem Königsbau. Kraftvoll, fröhlich und mitreißend sangen sie Zeilen wie „Praise the Lord“ („Lobet den Herrn“). Auch hier war die Resonanz überwältigend. Viele Menschen zückten ihre Smartphones, klatschten oder sangen mit.
Gemeinschaft, Vielfalt und ein klarer Wunsch
Für Lisa Benezan, die seit zehn Jahren im Chor singt und die Flashmobs mitorganisiert hat, ist das Jubiläum ein ganz besonderer Meilenstein und ein Grund zum Feiern. „Es ist einfach toll zu sehen, wie viele Leute von Anfang an dabei waren, aber auch immer noch neu dazukommen“, sagt sie. Gegründet wurde der Chor 2005 in der Heilandskirche im Stuttgarter Osten. Was mit rund 20 Menschen begann, ist heute eines der größten Gospelprojekte in Deutschland – offen für alle Altersgruppen, Konfessionen und musikalische Hintergründe. „Niemand muss vorsingen. Man darf einfach kommen und mitsingen. Es ist offen für alle“, so Benezan. „Singen macht glücklich. Singen macht Freude. Und wir wollen alle einladen, das auszuprobieren und dabei zu sein.“
Der Chor zählt aktuell rund 600 Mitglieder zwischen elf und achtzig Jahren. Mit Partnerchören aus dem In- und Ausland waren es zur Festivalwoche etwa 1000 Mitwirkende. Denn die Flashmobs waren Teil des fünftägigen Festivals „United by Gospel“, das am 28. Mai begann und mit verschiedenen Veranstaltungen – darunter ein großes Konzert auf dem Schillerplatz am Donnerstag – das 20-jährige Bestehen des Chors feiert. Den großen Abschluss der Jubiläumswoche bildet ein Konzert am Samstagabend in der MHPArena Ludwigsburg.
Doch trotz aller Feierstimmung gibt es auch einen ernsten Wunsch: Der Chor bangt aktuell um seinen Probenraum – die Friedenskirche im Stuttgarter Osten, die für verzichtbar erklärt wurde. „Das ist unser Zuhause und unser Probenort. Wir hoffen, dass wir dort bleiben dürfen“, sagt Lisa Benezan. Eine Petition zum Erhalt des Standorts läuft bereits.