Das Stuttgarter Wagenburg-Gymnasium hat in dieser Woche eine Gruppe ukrainischer Jugendlicher empfangen, die die Schrecken des Kriegs so für ein paar Tage vergessen sollen. Das gelingt jedoch nicht immer.
Auf den Tischen im Stadtmedienzentrum Stuttgart stehen Kisten voll buntem Lego. Davor sitzen ukrainische und deutsche Jugendliche und programmieren mit Tablets Roboter. Immer wieder stehen die Schülerinnen und Schüler auf, um die Fahrfähigkeit ihrer Konstruktionen zu testen. Englische, ukrainische und deutsche Sprachfetzen fliegen durch den Raum. Die Stimmung ist konzentriert und doch gelöst.
Schüleraustausch durch ein Unesco-Programm
„Ziel des Aufenthalts ist es, dass die ukrainischen Jugendlichen auf andere Gedanken kommen und eine neue Kultur kennenlernen“, sagt Günther Bäuerle, der zur Leitung des Wagenburg-Gymnasiums im Stuttgarter Osten gehört. Er war eng an der Entstehung des Schüleraustauschs beteiligt, der über das Recreation-Projekt der Unesco organisiert wird. Im Rahmen dieses Projekts verbringen Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine bis zu drei Wochen in Deutschland, um dem Kriegsalltag für eine Weile zu entfliehen und ganz normale Jugendliche sein zu können. Seit der Premiere vor zwei Jahren waren etwa 500 ukrainische Schüler in Deutschland.
Der Krieg reist auch immer ein bisschen mit
Dass die Umstellung jedoch nicht mit einem Fingerschnipsen gelingt, wird durch die Schilderung Annas, einer der Begleitlehrerinnen aus der Ukraine, deutlich: „Der erste Tag hier war etwas schwierig für uns, weil es in der Umgebung ein lautes Geräusch gab und uns das sehr erschreckt hat.“ Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat also Spuren hinterlassen, die die betroffenen Menschen auch im weit entfernten und sicheren Stuttgart nicht einfach hinter sich lassen können. Trotzdem sagt Anna: „Die Kinder freuen sich so sehr, hier zu sein. Und man merkt ihnen an, dass sie hier entspannter sind als in der Heimat.“
Während der Woche in Stuttgart wird den 16 Jugendlichen im Alter von 12 bis 16 ein abwechslungsreiches Programm geboten. Ein Besuch in der Wilhelma, aber auch im Kunstmuseum und im Mercedes-Benz-Museum stehen auf dem Plan. Danach geht es für die Schüler weiter nach Frankfurt, bevor sie mit dem Bus zurück in ihre Heimatstadt Kiew fahren. Doch auch abgesehen vom offiziellen Programm machen die ukrainischen Jugendlichen hier Erfahrungen, die in ihrer Heimat momentan undenkbar sind. Viele von ihnen schlafen hier das erste Mal seit Langem eine Nacht komplett durch. Ganz ohne Luftalarm, der sie aus dem Schlaf reißt.
Unterricht im Schutzraum
Auch die Unterrichtsbesuche am Stuttgarter Gymnasium unterscheiden sich sehr vom Unterricht in Kiew. „Zu Hause unterrichten wir die Schüler momentan im Schutzraum, weil der Unterricht sonst ständig von Luftalarmen unterbrochen werden würde“, sagt Anna. Lernen im Ausnahmezustand, für die ukrainischen Schüler ist das inzwischen Normalität.
Umso wichtiger ist es für die Jugendlichen, nach mehr als 1000 Tagen Krieg einen Moment durchatmen zu können. Anastasia ist 13 Jahre alt und Präsidentin der Schule, was in Deutschland der Rolle einer Schulsprecherin gleicht. Sie war vor vier Jahren schon einmal mit ihren Eltern in Deutschland, bevor der russische Angriff auf die Ukraine in einen Krieg ausartete.
Langfristige Kontakte gewünscht
„Bislang war es total schön hier, und ich mag es, mit meinen Freunden und unseren großartigen Lehrern hier zu sein“, berichtet Anastasia. Sie fühle sich hier sehr willkommen und habe schon Freundschaften mit den deutschen Jugendlichen geschlossen. Trotzdem freut sie sich auf ihr Zuhause. „Dort sind meine Familie und meine langjährigen Freunde.“
Michael Nowak, der Schulleiter des Wagenburg-Gymnasiums, hofft, dass die Kontakte und Verbindungen von dieser Woche lange bestehen bleiben: „Wir möchten das auf jeden Fall wiederholen.“ Die ukrainischen Lehrerinnen haben die deutschen Schüler nach Kiew eingeladen. „Die Einladung würden wir natürlich wahnsinnig gerne annehmen, aber wer weiß, wann das möglich sein wird“, räumt Bäuerle ein.
Auch Anna, eine der ukrainischen Schülerinnen, würde sich freuen, wenn der Kontakt zu den deutschen Jugendlichen bestehen bleiben würde. „Mir gefällt es, andere Kulturen kennenzulernen, und ich habe hier schon viel gelernt.“ Sie nutzt jede Gelegenheit, um ihr Deutsch zu verbessern. Die 16-Jährige war bereits mehrmals in Deutschland, da sie gerne programmiert und hier an Wettbewerben teilgenommen hat. „Stuttgart hat mir von allen Orten, die ich bisher in Deutschland gesehen habe, am besten gefallen“, sagt Anna.
Die Stadt Stuttgart habe eine tolle Atmosphäre, sagt sie, und beugt sich dann wieder über das Tablet, um das kleine Fahrzeug mit drei Rädern, das sie gerade baut, fertig zu programmieren. Nächstes Jahr ist sie mit der Schule fertig. Ungewiss, was danach kommt. Wie bei so vielem in der Ukraine.