Unfalltod in Orbans Polizeieskorte 70 Jahre alte Frau steht vor Gericht – Verteidiger fordert Freispruch

Prozessauftakt im Amtsgericht: Eine 70-jährige Autofahrerin (im weißen Pullover) ist wegen des Todes eines Motorradpolizisten am 24. Juni 2024 angeklagt. Foto: Lichtgut/ Christoph Schmidt

Bei der Fußball-EM 2024 kam in Stuttgart ein Motorradpolizist im Konvoi des ungarischen Ministerpräsidenten ums Leben. Nun steht eine Autofahrerin vor Gericht.

Lokales: Wolf-Dieter Obst (wdo)

Nach Trauerfeiern und mehreren Gedenkveranstaltungen zum Unfalltod des Stuttgarter Motorradpolizisten Thomas Hohn bei der Fußball-EM 2024 folgt anderthalb Jahre später die Gerichtsverhandlung. Eine heute 70-Jährige soll den Unfall am Albplatz Degerloch im Juni 2024 verschuldet haben, als sie mit ihrem BMW einer Polizeieskorte für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in die Quere geriet. Am Mittwoch saß sie im Stuttgarter Amtsgericht auf der Anklagebank – unter dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen Körperverletzung eines weiteren Beamten. Zum Auftakt zeigt sich: Die Schuldfrage ist für sie längst nicht ausgemacht. „Es geht um den Tod eines Menschen, der meiner Mandantin in die Schuhe geschoben werden soll“, sagt ihr Verteidiger. Der will eine Einstellung des Verfahrens „und am Ende Freispruch“.

 

Die Anklage wirft der Frau fahrlässige Tötung des 61-jährigen Polizeibeamten sowie fahrlässige Körperverletzung an dessen damals 27-jährigen Motorradstaffelkollegen vor, der die Kreuzung Löffelstraße und Rubensstraße in Degerloch für den Staatsgast-Konvoi freihalten sollte. Nach Auffassung des Staatsanwalts soll die damals 69-jährige die im Verkehr erforderliche Sorgfalt grob außer Acht gelassen haben und auf die Kreuzung eingefahren sein, obwohl der 27-jährige Polizist sie noch mit Handzeichen und mehrfachen lauten Rufen aufzuhalten versuchte.

Am 24. Juni 2024, am Tag nach dem EM-Spiel Schottland gegen Ungarn (0:1), sollte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zum Flughafen gefahren werden. Acht Polizeimotorräder sollten den Staatsgast begleiten und in rotierender Weise die Querstraßen auf der Route kurzzeitig freisperren, damit der Konvoi auf der B 27 freie Fahrt hatte. Diese Sonderrechte sollten das Risiko minimieren, dass der ungarische Ministerpräsident angegriffen werden konnte.

Einmündung Rubensstraße: Gedenktafel am Unfallort. Foto: Wolf-Dieter Obst

Dann kam alles ganz anders. Laut Staatsanwaltschaft war es 11.18 Uhr, als sich der dramatische Zwischenfall ereignete. Nach den Erkenntnissen des ermittelnden Polizeipräsidiums Ludwigsburg hatte ein 27-jähriger Motorradpolizist die Kreuzung Löffel-/Rubensstraße gesperrt, indem er seine Maschine mit eingeschaltetem Blaulicht mittig in der Einmündung abstellte, abstieg und mit Handzeichen den Verkehr auf der B 27 Richtung Innenstadt und in der Rubensstraße zum Stillstand aufforderte. Die Autofahrer warteten.

Die BMW-Fahrerin sei zu diesem Zeitpunkt als fünftes Fahrzeug auf der Rechtsabbiegespur der Rubensstraße gestanden, so der Staatsanwalt. Dabei sei mindestens eine Minute vergangen. Dann aber sei die Frau auf die Linksabbiegespur ausgeschert und habe an den rechts wartenden Autos vorbei die Kreuzung angesteuert. Der Polizist an der Einmündung habe dies erkannt und die BMW-Fahrerin noch aufzuhalten versucht. Er sei mit neongelber Jacke und sein Motorrad mit Blaulicht gut erkennbar gewesen. „Halt, Stopp, Polizei!“, soll er gerufen haben.

Gutachten: BMW fuhr mit 26 km/h in die Kreuzung

Das von links heranfahrende Polizeimotorrad des 61-jährigen Motorradpolizisten Thomas Hohn soll sie nicht registriert haben. Laut Gutachten näherte er sich als Führungsfahrzeug mit 70 Kilometer pro Stunde der Kreuzung, die von Streckenschutzkräften vermeintlich abgesichert war. Die BMW-Fahrerin fuhr jedoch laut Gutachten mit 26 Kilometer pro Stunde in die Kreuzung ein. Bei der Kollision wurde der 61-Jährige von seiner Maschine geschleudert, die gegen den 27-Jährigen und dessen Motorrad prallte. Hohn selbst kollidierte mit einem Ampelmasten und erlitt tödliche Verletzungen.

Gedenkveranstaltung im Juli 2024 auf dem Schlossplatz. Foto: Andreas Rosar

Für den Prozess hat Amtsrichterin Dettling drei Verhandlungstage bis Ende nächster Woche angesetzt. Dabei sollen ein Sachverständiger und 14 Zeugen gehört werden. Der Verteidiger der 70-Jährigen hat bereits Tage vor dem Prozessauftakt sein Statement zur Anklage kundgetan. Der Freiburger Anwalt beklagte darin „unklare Polizeizeichen und zweifelhafte Rekonstruktionen“. Er habe den Eindruck, dass „die Justiz von polizeilichem Versagen ablenken möchte“. Den Medien warf er pauschal eine „einseitige und oberflächliche Berichterstattung“ vor. Unsere Zeitung hatte freilich mehrfach auch kritische Aspekte beleuchtet.

Die ersten Zeugen sagen aus – und äußern Unstimmigkeiten

Die Angeklagte machte am Mittwoch zur Person und zur Sache keine Angaben. Das Gericht hörte die ersten Zeugen des Geschehens – unter anderem eine 61-jährige Autofahrerin, die auf der B 27 an der Ampel stand und von einem Polizeimotorrad mehrere Minuten aufgehalten wurde, als sich vor ihr das Drama abspielte. Außerdem eine 61-jährige Mitarbeiterin eines Labors im dritten Stock eines Gebäudes am Albplatz, die den Unfall vom Fenster aus beobachtet hatte. „Wir haben schon so viele Eskorten da unten vorbeifahren sehen“, sagt sie, „und ich habe mich gewundert, dass nur ein einziger Beamter auf der Kreuzung unterwegs gewesen ist und die Rubensstraße nicht extra abgesperrt wurde.“ Das sei sonst immer der Fall gewesen, sagt sie. Ein Privatdetektiv hatte sie im Auftrag der Verteidigung aufgespürt. Warum hatte sie sich nicht an die Polizei gewandt? Sie sagt, ein Polizist hätte ihr am Tag nach dem Unfall erklärt, dass man genug Zeugen hätte.

Gehört wurde auch ein 37-Jähriger, der zwei Fahrzeuge vor der Angeklagten in der Rubensstraße auf der rechten Spur stand. Er berichtete, den Grund des Wartens zunächst nicht erkannt zu haben. Dann habe er ein Polizeimotorrad auf der Kreuzung ausgemacht und einen Motorradpolizisten gesehen, der eine Frau mit Kinderwagen davon abgehalten habe, die Bundesstraße zu überqueren. Er habe sich lange Zeit Vorwürfe gemacht, dass er nicht auf die linke Abbiegespur gefahren sei und sie damit blockiert hätte – damit wäre vielleicht der Unfall verhindert worden. „Aber andererseits war es auch nicht meine Aufgabe, diese linke Spur zu sperren.“

Nach acht Zeugenaussagen am ersten Verhandlungstag stellte der Verteidiger einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin – weil sie nicht alle von seinem Detektiv ermittelte Zeugen geladen habe. Der Prozess wird am Montag fortgesetzt.

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