Nach dem Gletscherbahnunglück am Kitzsteinhorn müssen sich die Opferfamilien damit abfinden, dass der Tod von 155 Menschen ungesühnt bleibt.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Stuttgart - Die Urne mit der Asche ihres Sohnes durften sie mit Sondergenehmigung der Stadt Wien im Garten unter dem Rosenstrauch platzieren. Auf dem Rasen stehen Karin und Johannes Stieldorf, Hand in Hand. "Wir haben Matthäus mitten unter uns gelassen", sagt sie. "Das war hilfreich, zumindest für mich."

Matthäus Stieldorf ist im Alter von 18 Jahren bei der größten Katastrophe in der Nachkriegsgeschichte Österreichs ums Leben gekommen. Mit ihm sind 154 Menschen, darunter 37 Deutsche, an Rauchgasen erstickt oder bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Am 11. November 2000 waren sie um 9.02 Uhr mit der Kapruner Standseilbahn ins Gletschergebiet des Kitzsteinhorns gestartet. Kurz nach der Abfahrt geriet der Zug in Brand. Im Tunnel breitete sich das Feuer rasend schnell aus, angefacht vom Effekt des Kaminsogs und genährt von allerlei brennbaren Materialien.

Anderthalb Jahre später wurden 16 Männer in Salzburg wegen fahrlässiger Tötung angeklagt - und freigesprochen. "Da hat Gott für einige Minuten im Tunnel das Licht ausgemacht", predigte der Richter in seiner Urteilsbegründung. Als das Verfahren die zweite Instanz passiert hatte, stand für die Justiz der Alpenrepublik endgültig fest: Keinen Menschen trifft eine Schuld. Selbst für fehlende Rauchmelder, Feuerlöscher oder Nothämmer könne niemand verantwortlich gemacht werden.

Eine fahrende Zeitbombe


Zurückgeblieben sind die zermürbten Opferfamilien, die von keinem irdischen Gericht mehr Gerechtigkeit erwarten dürfen. "Die Trauer hat sich im Laufe der Jahre in Wut verwandelt, in eine regelrechte Aggression gegen die Verursacher der Katastrophe", sagt Ursula Geiger aus dem oberbayerischen Übersee. Heute, zehn Jahre nach dem Inferno, besteht faktisch keine Hoffnung mehr, dass jene bestraft werden, die durch Schlamperei ihren Sohn Sebastian auf dem Gewissen haben. Ulrich Geiger, der Vater, sagt: "Ich werde meinen Frieden nicht finden, solange das Unrecht bestehen bleibt."

Von einer "zehnjährigen Psychofolter für die Betroffenen" spricht der Stuttgarter Schadengutachter Hans-Joachim Keim. Seit 2004 beschäftigt sich Keim mit dem Fall Kaprun, weil darin auch ein württembergisches Unternehmen verwickelt ist: Laut den österreichischen Ermittlern soll ein Heizlüfter des Typs Hobby TLB, hergestellt von der Firma Fakir in Vaihingen an der Enz, die Feuersbrunst in der Gletscherbahn ausgelöst haben.

Keim rehabilitierte Fakir. Er wies nach, dass der Heizlüfter vor dem Einbau in die Seilbahn zerlegt und direkt vor eine undichte Gummileitung montiert worden war, in der leicht entflammbares Hydrauliköl floss. "Jeder Laie weiß, dass damit die Herstellerhaftung erloschen ist", sagt er. Fazit: die Kapruner Gletscherbahn AG hatte eine fahrende Zeitbombe konstruiert, die am 11. November 2000 explodierte.

Der Tatbestand der fahrlässigen Tötung ist verjährt


Für Keim hat sich der Auftrag zu einer Mission entwickelt. Im vergangenen Jahr hat der schwäbische Sachverständige und Initiator des Vereins Gerechtigkeit für Kaprun österreichische Staatsanwälte und eine ehemalige Justizministerin angezeigt, unter anderem wegen "vorsätzlicher Strafvereitelung" und "Bildung einer kriminellen Vereinigung mit Hilfe von Amtsträgern". Fraglich ist, ob sich ein deutsches Gericht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte oder der Supreme Court der Vereinigten Staaten mit dieser Verschwörungstheorie befassen will. Zumal die Mitarbeiter der Kapruner Gletscherbahn nicht mehr belangt werden können - der Tatbestand der fahrlässigen Tötung ist verjährt.

"Es wurde etwas kaputt gemacht, aber niemand steht dafür ein", sagt Ursula Geiger. Ihr Sohn Sebastian gehörte zur Jugendmannschaft des Bayerischen Skiverbands. Er wäre jetzt 24. Vielleicht hätte er im Februar 2011 an den Olympischen Winterspielen teilgenommen. "Er war ein Naturtalent", sagt Ursula Geiger. Sie und ihr Mann Ulrich betrieben am Chiemsee einen Skiservice, Sebastian sollte ihn einmal übernehmen. Sie haben das Geschäft nach dem Unglück am Kitzsteinhorn aufgegeben. Noch immer besucht das Ehepaar seinen Sohn fast täglich auf dem Friedhof, der Grabstein sieht aus wie ein Fels. "Unser Sebastian hat die Berge geliebt", erzählt Ulrich Geiger.

Johannes Stieldorf ist Rechtsanwalt in Wien. Matthäus wollte in seine Fußstapfen treten. Er hatte im September 2000, zwei Monate vor seinem Tod, mit dem Jurastudium begonnen. Die letzte auf einem Videoband konservierte Urlaubserinnerung zeigt Vater und Sohn, wie sie in einem Kajak durch die Kanäle von Venedig paddeln. Die Sonne scheint, das Wasser glänzt, und der 18-jährige Matthäus lächelt in die Kamera. Für die Familie Stieldorf hätte alles so bleiben können.

Programmhinweis: Der Fernsehsender 3Sat zeigt am Donnerstag um 20.15 Uhr die Dokumentation "Kaprun - zurück ins Leben". Der Regisseur Andreas Gruber hat das Ehepaar Stieldorf, Ursula Geiger und andere Angehörige von Opfern der Seilbahnkatastrophe interviewt.