Urteil im Prozess gegen Ex-Waldorflehrer Was geschah an der Waldorfschule Uhlandshöhe?

Von 2009 bis 2011 soll ein Lehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe Schüler geschlagen, getreten und auf viele andere Arten gedemütigt haben. Für das Gericht waren die Vorwürfe allerdings nicht nachweisbar. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Ein ehemaliger Lehrer der Waldorfschule an der Stuttgarter Uhlandshöhe wird vom Vorwurf der Misshandlung Schutzbefohlener freigesprochen. Doch Fragezeichen bleiben.

Region: Verena Mayer (ena)

Als der Richter am Ende des Verhandlungstages das Urteil verkündet hat, beginnt im Zuschauersaal eine Frau zu weinen. „Oh Gott“ sagt sie, und die Tränen hören nicht auf zu fließen. Der Mann, der eben noch als Angeklagter in Saal 6 des Stuttgarter Landgerichts saß, ist nun, am Ende dieses Prozesses, ein unschuldiger Mann.

 

Misshandlung von Schutzbefohlenen hat der Vorwurf gelautet. Im Zeitraum von 2009 bis 2011 soll er als Lehrer an der Waldorfschule Uhlandshöhe Schüler geschlagen, getreten und auf viele andere Arten gedemütigt haben. Vier lange Tage dauerte die Verhandlung. 19 Zeugen haben vor der 102. Strafkammer ausgesagt. Viele ehemalige Schüler, Eltern von ehemaligen Schülern, Lehrerinnen, ein Polizist und ein Psychologe. Auch eine Sachverständige war da.

Ein hartes Urteil, trotz Freispruchs

Sehr viel von dem, was die Zeugen gesagt haben, hat ein düsteres Licht auf den Mann geworfen. Der Richter Matthias Merz sagt am Ende des Prozesses deshalb nicht nur: „Der Angeklagte wird freigesprochen.“ Er sagt auch, dass dieser Mann als Lehrer in seiner Schulklasse „pädagogisch und moralisch fehl am Platz war“.

Ein hartes Urteil, trotz Freispruchs – das kann man wohl bemerkenswert finden. Und bezeichnend für einen Fall, in des trotz klaren Endes viele Fragezeichen bleiben. Dazu gehört, dass man nun nicht einmal genau sagen kann, was an der Schule damals wirklich passiert ist.

Da ist der junge Mann, der bis heute in psychologischer Behandlung ist und der vor Gericht einen Therapiehund braucht und einen psychosozialen Prozessbegleiter. Und der, so schildert er, bisweilen ohnmächtig wird, wenn irgendwo Gekreische oder laute Stimmen aufbranden. Weil ihn das an damals erinnere, seine traumatisierende Schulzeit. Der Lehrer habe viel geschrien, er sei sehr laut gewesen und sehr aggressiv. Er habe ihn an den Haaren vom Stuhl gezogen oder im Nacken gepackt und auf den Tisch gedrückt.

Es gibt auch Aussagen, die ein anderes Bild zeichnen

Da ist sein ehemaliger Klassenkamerad, der vor Gericht sagt, der Lehrer habe seine Schüler wie Sklaven behandelt und dass der Mann „ein Psycho“ sei. Immer wieder habe er ihn mit den Daumen gegen die Schläfen gedrückt und ihn dann in die Höhe gezogen.

Und da ist die Mutter, die berichtet, was sie seinerzeit von ihrem Sohn erfahren hat: dass der Lehrer fest auf den Gips seiner gebrochenen Hand gedrückt habe. Und dass das ihrem Sohn sehr wehgetan habe.

Es gibt viele weitere und auch noch brutalere Vorwürfe an den Lehrer. Dazu später mehr. Doch es gibt auch Aussagen, die ein komplett anderes Bild zeichnen.

Manche Zeugen haben keine Misshandlungen wahrgenommen

Die Aussage vom Lehrer natürlich, der alle Vorwürfe bestreitet. Er ist ein großer, hagerer, blasser Mann. Er trägt eine Brille mit dünnem Rand und hat schütteres, halblanges Haar. Er sagt von sich, er habe seine Klasse gut im Griff gehabt. Maßregelungen habe es bei ihm keine gegeben. Allenfalls habe er ein Kind mal „zur Abkühlung“ vor die Tür geschickt. Das Auftauchen der Anschuldigungen bringe er nicht zusammen.

Es gibt aber auch Schüler von einst, die den Lehrer als jemanden beschreiben, von dem man gerne unterrichtet wurde. Ein Mann ist das demnach gewesen, der sich „sehr gut gekümmert“ habe um alle Schüler. Der „ein sehr guter Pädagoge“ war, der einen etwa nachhaltig lehrte, das Alphabet rückwärts aufzusagen. Der „kindgerecht“ war, „nett“ und „hilfsbereit“. Als cholerisch beschreibt ihn von diesen ehemaligen Schülern niemand. Und wenn der Lehrer doch einmal laut wurde, dann weil die Klasse selbst „laut“ und „unruhig“ war. Das Einzige, was einem dieser Zeugen negativ in Erinnerung ist, ist ein Tafellappen, den der Lehrer auf den Boden geworfen habe. Weil er sauer gewesen sei.

Dass der Lehrer andere Kinder geschlagen, getreten, geschüttelt, bespuckt oder anderweitig misshandelt haben soll, haben diese Zeugen nicht wahrgenommen. „Wenn so etwas passiert wäre“, sagt einer der jungen Männer vor Gericht, „hätten das doch sofort 30 Kinder daheim erzählt.“

Müsste die Schule nicht etwas bemerkt haben?

Wenn man diese höchst unterschiedlichen Schilderungen über Stunden und Tage hinweg hört, erscheint es unvorstellbar, in diesem Fall die Wahrheit zu ermitteln. Kann das sein: Sollte eine dieser zwei Seiten lügen? Aber: warum? Andererseits erscheint auch anderes in diesem Fall seltsam.

Die Schule zum Beispiel. Müsste sie nicht etwas bemerkt haben? Es kann doch nicht sein, dass ein Kollege herumbrüllt und Kinder drangsaliert und niemand stutzig oder zumindest aufmerksam wird. Oder?

Den Eltern einer höheren Klasse war etwas aufgefallen. Sie initiieren eine Unterschriftenliste, mit der verhindert werden soll, dass der Lehrer eine erste Klasse übernimmt – jene erste Klasse, aus der später die Misshandlungsvorwürfe stammen. Eine ehemalige Schülerin dieser höheren Klasse erinnert sich an „seine Wutausbrüche“ und daran, dass der Lehrer im Zorn heftig auf Tische schlug. Und eine Mutter eines Kindes aus dieser damals achten Klasse sagt vor Gericht, dass sich ihre Tochter oft über den Ton des Lehrers beklagt habe und darüber, dass er ungerecht sei. Und dass die Klasse ihrer Tochter nicht wie üblich die Patenschaft für die neuen Erstklässer übernehmen wollte, weil sie nichts mehr mit dem Lehrer zu tun zu haben wollte. Unterzeichnet hat diese Mutter die Unterschriftenliste jedoch nicht. Es missfiel ihr, dass die Eltern sich so stark einmischten. Das sei die Verantwortung der Schule, meint sie. Die Mutter unterrichtet selbst an der Uhlandshöhe.

Ein tränenüberströmtes Kind stürzt aus dem Klassenzimmer

Eine Lehrerin wiederum, die eine weitere erste Klasse übernahm, also Stufenkollegin des umstrittenen Lehrers wurde, hat von der Unterschriftenaktion und dem Streit über seine Qualifikation nichts mitbekommen, wie sie angibt. Und auch von seinem Geschrei nicht, das, glaubt man Eltern, unüberhörbar gewesen sein muss.

Eine Mutter, die im Hof auf ihren Sohn wartete, hat nicht vergessen, wie es aus dem Klassenzimmer im zweiten Stock „die ganze Zeit brüllte: Seid still! Benehmt euch!“

Eine andere Mutter hat beobachtet, wie ein tränenüberströmtes Kind aus dem Klassenzimmer stürzte und der Lehrer es am Kragen packte und mit dem Knie in den Po stieß.

Wieder eine andere Mutter erfuhr später von der Schulärztin, dass ihr Sohn ein Jahr lang fast täglich zu ihr gekommen sei, um sich mit einer Wärmflasche in die Krankenstation zu legen. Vor Gericht erzählt diese Mutter von den blauen Flecken, die sie am Körper ihres Sohnes entdeckt hat – und davon, wie er Ausreden erfand. Weil er sich nicht traute, seinen Eltern zu sagen, dass der Lehrer ihn geschlagen habe. Und sie erzählt schluchzend, wie die Familie „in Scherben lag“, als der Sohn letztlich doch erzählte, in der Schule misshandelt zu werden. Es ist diese Mutter, die weint, als der Richter das Urteil verkündet.

Eine Anzeige bringt den Fall ins Rollen

Letztlich, das gehört auch zu dieser Geschichte, hat die Uhlandshöhe dem Lehrer tatsächlich gekündigt. Nicht jedoch wegen Misshandlungen. Davon, betont die Schule bis heute, habe man nichts mitbekommen. Der Grund für die Kündigung sei die cholerische Art des Lehrers gewesen und seine Weigerung, sich therapeutisch helfen zu lassen.

Die Frage, ob die Schule Fehler gemacht hat, spielt vor dem Landgericht keine Rolle. Und auch nicht, ob sie genauer hätte hinschauen können. Oder ob es etwas geändert hätte, wenn sie die Probleme mit dem Lehrer der Schulbehörde gemeldet hätte, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Weil dann die Behörde im Sommer 2012 – dem Zeitpunkt der Kündigung – womöglich selbst genauer hingeschaut hätte? Und dabei womöglich etwas entdeckt hätte, was wertvolle Zeit gebracht hätte? So jedoch kam der Fall erst ins Rollen, als einer der Schüler bereit war, Anzeige zu erstatten. Ende 2015 war das – mehr als sechs Jahre nach der Einschulung, mit der sein Leiden begann.

Wenn die Zeugen nun vor dem Landgericht über ihren ersten Jahre an der Uhlandshöhe berichten sollen, dann müssen sie sich also an eine Zeit erinnern, die bald mehr als 14 Jahre zurückliegt. Kein Wunder also, dass der Richter bei der Erkundung der Vergangenheit auf viele Lücken stößt.

Der Lehrer fordert einen Freispruch

Der Schüler, der noch heute bisweilen ohnmächtig wird, kann sich „nicht mehr genau“ an die Situationen erinnern, in denen der Lehrer ihm die Hosen heruntergezogen und in die Genitalien getreten haben soll. Der Schüler, dem sich der Druck an den Schläfen „eingebrannt“ hat, weiß nichts mehr davon, dass ihn der Lehrer einst an den Haaren in den zweiten Stock geschleift haben soll. Und der Schüler, dessen gebrochenen Arm der Lehrer gedrückt haben soll, kann dazu heute so wenig sagen wie zu den vielen Ohrfeigen, die ihm der Lehrer verpasst haben soll. „Ich habe keine konkrete Erinnerung“ ist ein Satz, der an diesen Verhandlungstagen oft zu hören ist.

Bei der Polizei vor gut acht Jahren klang das komplett anders. Und das Amtsgericht, wo der Fall in erster Instanz verhandelt wurde, hatte noch im Dezember 2020 „keinerlei Zweifel“ daran, dass der Angeklagte „eine Vielzahl nicht nachvollziehbarer, von äußerster Grausamkeit getragener Taten“ begangen hatte. Gegen seine 22-monatige Bewährungsstrafe legte der Lehrer Berufung ein. Er wollte einen Freispruch.

Der Richter am Landgericht sagt nun, bei keinem der heute jungen Männer habe die Kammer den Eindruck gehabt, dass sie etwas Falsches erzählt haben, „im Gegenteil“. Aber er sagt auch, dass es „Störfaktoren gab, die eine zweifelsfreie Verurteilung nicht möglich machen“. Und, eherner Grundsatz des Strafrechts: Im Zweifel für den Angeklagten.

Die letzten Worte des Angeklagten vor Gericht

Der Lehrer ist inzwischen 66 Jahre und im Ruhestand. Seine letzten Worte im Gerichtssaal nutzt er, um detailreich Widersprüche in den Aussagen der betroffenen Schüler aufzuzählen und ihre Familien mit Vorwürfen zu überziehen. „Ich bin arbeitslos geworden, habe keine Stelle mehr gefunden und lebe von einer Scheißrente“, brüllte er im Gerichtssaal. „Das haben Sie erreicht!“

Aus seiner Sicht, ist zu vermuten, ist er schon längst hart bestraft worden.

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