Häusliche Gewalt ist das Thema von Valerie Fritschs Roman „Zitronen“. Beim Esslinger Literaturfestival Lesart berichtete die österreichische Autorin von ihren Recherchen und Gesprächen mit Tätern und Opfern.

Der Vater hält das Köpfchen der Katze zärtlich in der groben Hand. Auch seinen Hunden zeigt er Liebe. Tiere machen ihn glücklich. Seinen Sohn August dagegen prügelt er selbst beim nichtigsten Anlass. Gewalt in der Familie hat die österreichische Autorin und Fotokünstlerin Valerie Fritsch zum Thema ihres Romans „Zitronen“ gemacht. Beim Esslinger Literaturfestival Lesart stellte die 35-Jährige ihr Buch vor. Sehr offen berichtete sie dem Publikum in der Esslinger Schickhardt-Halle im Alten Rathaus von den Gesprächen mit Tätern und Opfern, die sie für das Buch geführt hat.

 

„Die Literatur ist imstande, ein Schlüsselloch zu sein“, sagte die Autorin im Gespräch mit dem Moderator Björn Springorum. Sie selbst habe nie Gewalt in der Familie erlebt, doch sie habe sich in das Thema eingelesen, recherchiert und so einen Zugang gefunden. Dabei halfen ihr Kinderschutzorganisationen. Dieser tiefe Blick ist aus ihren bleischweren Sprachbildern herauszulesen, die doch immer wieder abgelöst werden von einer trügerischen Leichtigkeit. Dass sich hinter dem strahlend klingenden Titel mit gelb leuchtenden Südfrüchten ein dunkles Schicksal verbirgt, verrät Fritschs vielschichtige, bildgewaltige Wortkunst. Auf dem Buchcover zerfällt die Kontur einer Zitrone in Stücke. Das ist ein Abbild der Zerrissenheit ihrer komplexen Figuren.

Hinter der liebevollen Fassade der Mutter lauert ein erschütterndes Gewaltpotenzial. Sie fügt dem Jungen unendlichen Schmerz zu. Dabei ist ihr das am wenigsten bewusst. „Zuhause stellte ihm auch die Mutter Fallen, schenkte ihm zu Weihnachten zwei Pullover, und war an jedem Tag, an dem er den einen anhatte, gekränkt, dass er nicht den anderen trug.“ So ließ sie das Kind ratlos und traurig zurück. Ihre unbändige Sucht nach Anerkennung treibt sie dazu, dem Jungen Medikamente ins Essen zu mischen, damit er krank und schwach wird. Das Porträt der Mutter ist die Geschichte einer Frau, die am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidet. Sie macht ihr Kind krank, um selbst Aufmerksamkeit zu bekommen. Darin liegt für Fritsch eine entsetzliche Grausamkeit.

Sensible Suche nach den Motivationen

Was das mit dem Jungen August macht, zeichnet Fritsch sensibel nach. Sie versucht, seine Motivationen zu ergründen, ohne ihm dabei zu nah zu kommen. „Mit zehn kannte August die Macht der Kränkung“, schreibt sie über den Protagonisten. Dabei blickt die Autoren tief in das leben der kaputten Familie hinein, deren Lebensmittelpunkt ein Couchtisch mit braunen Flecken ist, auf denen ein Puzzle liegt. In „Zitronen“ erzählt die Autorin eine Geschichte, wie sie in der deutschen oder österreichischen Gesellschaft tausendfach totgeschwiegen wird. Das tut sie auf eine Weise, die fesselnd und zerstörend zugleich ist. Sie haben das Buch „nicht weglegen können“, sagte Veranstalterin Dominique Caina von der Stadtbücherei Esslingen in ihrer Einführung. Damit brachte sie die Qualität des Romans griffig auf den Punkt.

„Wie ist es eigentlich, mit einem Mörder Kaffee zu trinken?“, fragte der Moderator Björn Springorum. Ihn interessierte die Recherche, die dem ungewöhnlichen Roman vorausging. Sie habe stundenlang zugehört, sagte die Autorin, „mit Respekt, und ohne Verurteilungen“. Dabei machte sie aus ihrer Distanz keinen Hehl. Die habe sie allerdings verloren, als sie mit einer Frau sprach, die den Mordversuch ihres Mannes überlebt hat. „Als ich kam, ist sie mir einfach um den Hals gefallen.“ Seitdem pflegt sie mit der Frau Kontakt, tauscht sich immer wieder mit ihr aus. Aus solchen Geschichten klingt die Dankbarkeit der Menschen, dass ihnen die Autorin eine Stimme gibt.

Wie geht Fritsch, die mit dem Roman sehr erfolgreich ist, mit dem Ballast der schrecklichen Geschichten um? „Ich habe durch das Buch angefangen, Zitronen zu züchten“, sagt die Autorin, die das Reisen liebt. Um sich das Leben zu versüßen, hat sie aus den Früchten Zitronenlikör hergestellt. „Alle meine Gesprächspartner, Opfer und Täter, haben ein Fläschchen bekommen.“