Der zweijährige Manzur wurde in Reutlingen geboren. Sein Vater, ein Flüchtling aus Somalia, lebt und arbeitet nach wie vor in der Stadt. Doch die Mutter des Jungen hatte offenbar andere Pläne – mit einem tragischen Ende.
Auf dem Bild, das den kleinen Manzur an seinem zweiten Geburtstag zeigt, hat der Junge sein Leben noch vor sich, niemand ahnt, dass diese Geburtstagsfeier seine letzte sein wird: Der kegelförmige Hut mit der Aufschrift „Happy Birthday“ schmückt seinen kleinen Kopf, die Comicfigur Spiderman ist auf seinem ärmellosen T-Shirt abgebildet. Der Junge sitzt auf saftig grünem Rasen, während die Sonne scheint. Manzur lebte bis zu seinem tragischen Tod mit seiner Familie in Reutlingen. Sein Vater arbeitet dort nach wie vor als Lagerist, die Stadt wurde zu einem Zuhause für die Familie, die vor mehreren Jahren aus Somalia nach Deutschland geflohen ist.
In Deutschland haben Manzurs Eltern lediglich eine Duldung
Doch eines Tages fasste Manzurs Mutter einen folgenschweren Entschluss, wie der „Spiegel“ recherchierte und in seiner aktuellen Ausgabe zuerst berichtete: Die 24-Jährige wollte mit ihrem Sohn nach Großbritannien weiterziehen, ohne den Vater. „Ich erinnere mich noch an den Moment, als er mir erzählt hat, dass seine Familie verschwunden ist“, sagt Julian Agster, der Vorgesetzte von Manzurs Vater in der Reutlinger Firma, gegenüber unserer Zeitung. „Wie verschwunden?“, habe er seinen Arbeiter verwundert gefragt. Bis heute wisse Manzurs Vater nicht, was seine Frau dazu bewogen habe, ohne Vorankündigung Reutlingen zu verlassen.
In Deutschland haben Manzurs Eltern lediglich eine Duldung, damit sind sie ausreisepflichtig, jedoch temporär vor der Abschiebung geschützt. Die gefährliche Route der Mutter und ihres Sohnes sollte über den Ärmelkanal vom französischen Calais bis ins englische Dover führen. Dort kamen sie nie an. Jene Nacht Anfang Oktober, als die Überfahrt per Schlauchboot geplant war, versucht die zuständige Staatsanwaltschaft in Frankreich derzeit zu rekonstruieren.
Wie es Manzurs Vater geht? „Ich will es mir nicht ausmalen“
Das Unglück soll sich bereits beim Einsteigen ins Schlauchboot ereignet haben: Die hochschwangere Mutter bat einen der Flüchtlinge, ihren Sohn für kurze Zeit zu halten, damit sie selbst ins Boot steigen konnte. Doch mit Manzur auf dem Arm hatte der Mann Probleme, das Gleichgewicht zu halten und stürzte. Für den Zweijährigen bedeutete das das Todesurteil: Manzur wurde in dem überfüllten Schlauchboot „erdrückt“, wie die Staatsanwaltschaft dem „Spiegel“ berichtete.
Als Julian Agster von dem Unglück erfuhr, startete er im Internet eine Spendenaktion für seinen Arbeiter: „Für die Rückholung und Bestattung des 2-jährigen Manzur“. Knapp 4000 Euro kamen zusammen. „Es hat leider nicht gereicht, aber wir haben eine riesen Unterstützung erfahren“, sagt Agster. Zwei Wochen hat er Manzurs Vater bezahlt freigestellt. Inzwischen ist der Zweijährige beerdigt – und Manzurs Vater geht wieder seiner Arbeit als Lagerist in Reutlingen nach. Wie es ihm geht? „Ich will es mir nicht ausmalen“, sagt Agster. Manzurs Vater habe sich bedankt für die Spendenaktion und ihn gebeten, diese zu beenden. Er möchte abschließen. Immer wieder sterben Flüchtlinge auf der gefährlichen Route von Frankreich nach Großbritannien über den Ärmelkanal.
Großbritannien attraktives Ziel für Flüchtlinge
„Die Angst vor der Abschiebung aus Deutschland ist größer als die Angst, sein Leben zu riskieren“, sagt Kai Wittstock, Vorstand der Hilfsorganisation „No Border Medics“. Seit etwa einem halben Jahr würden vermehrt Flüchtlinge aus Deutschland, deren Asylanträge hierzulande abgelehnt wurden, den Weg an die französische Küste suchen. Großbritannien sei ein attraktives Ziel aus mehreren Gründen, erklärt Wittstock: schnellere Asylverfahren und leichterer Zugang zum Arbeitsmarkt. „Wenn Herr Scholz oder Frau Faeser das lesen, fühlen sie sich auch noch bestätigt, weil sie sehen, dass es wirkt, wenn sie mit Abschiebung drohen“, sagt er. Eine verschärfte Flüchtlingspolitik dürfe aber nicht dazu führen, dass Menschen sterben. „Was in Calais passiert, kann nicht die Lösung sein“, sagt Wittstock.