Ein Kind will vor 30 Jahren für den Vater Zigaretten holen – und verschwindet Sabine Hammerichs Schicksal bewegt die Menschen im Stuttgarter Westen damals wie heute. Erst jetzt verrät der Soko-Leiter von einst, dass er nach der Sendung "Aktenzeichen XY" einen wertvollen Hinweis bekam.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - An der Straßenecke bleibt der Nachbar von einst stehen. Martin Berger (Name geändert) legt die Hand auf die zugeschmierten Bohrlöcher in der Sandsteinwand, misst mit den Armen den Abstand. „Ob hier der Zigarettenautomat hing?“ fragt er sich. Die Abmessungen stimmen. Dann geht er im Geiste durch, was am 17. Juli 1985 geschah. Berger war damals zwölf Jahre alt. Alt genug, um zu verstehen, dass es Menschen gibt, die Kindern Böses wollen. Aber noch jung genug, Angst wie ein Kind zu haben, als die Nachricht von Sabine Hammerichs Verschwinden die Runde im Westen machte.

 

Das Schicksal der kleinen Sabine Hammerich jagt auch 30 Jahre später noch fast jedem, der damals im Westen lebte, einen eiskalten Schauer den Rücken hinunter. Der Vater, ein Polizeibeamter, merkt kurz vor seinem Dienstantritt im Revier an der Mönchhaldenstraße, dass er keine Zigaretten mehr hat. Seine Tochter bietet an, neue zu holen. Der Automat ist nur etwa 50 Meter von der Wohnung der Familie an der Schwabstraße entfernt, die Strecke liegt auf Sabines täglichem Schulweg. Sabine zieht los, mit ein paar Markstücken in der Hand – und kommt nie zurück. Eineinhalb Jahre später finden Jäger im Wald bei Bamberg ein Skelett. Erst im August 1988 steht fest: es sind die sterblichen Überreste der Neunjährigen. Bis heute weiß die Polizei nicht, wer sie entführte und umbrachte.

Die Suchaktion ist eine der größten der Stuttgarter Polizei

Am Abend des 17. Juli schlagen die Eltern Alarm. In den kommenden Tagen erlebt der Westen eine Suchaktion, die als eine der größten in der Geschichte der Stuttgarter Polizei gilt. Martin Berger erzählt von damals. Von Kinobesuchen, welche Buslinie man nahm, als es noch keine Stadtbahn gab. Von Läden und Kneipen, die nicht mehr sind, wo sie waren. Eine dreiviertel Stunde erzählt er. Es ist ein schöner Sommerabend, gegen 18.30 Uhr. Ein Abend wie der, an dem Sabine verschwand. 14 Kinder gehen in dieser Zeit ohne Eltern an der Ecke Schwab-/Rosenbergstraße vorbei. Sie holen Pizza, fahren Skateboard, holen Geschwister von der Bushaltestelle ab, schlecken ein Eis an der Tankstelle. Heute wie damals ist es eine belebte Ecke, an der Eltern bedenkenlos ihre Kinder kleine Besorgungen machen lassen können. Dass es einmal nicht gut geht und Sabine auf den wenigen Metern bis zum Zigarettenautomat verschwindet, macht die Westler heute wie damals fassungslos.

„Es lässt mich nicht los“, sagt Josef Kögel, im Jahr 1985 zusammen mit seinem Kollegen Wolfgang Stein Chef der Sonderkommission „Sabine“. Jede Uhrzeit, jedes Datum des Falls hat sich ihm eingeprägt – und der Frust, den Täter nie gefasst zu haben. Am 17. Juli um 18.30 Uhr verschwindet Sabine. Am 29. Dezember 1986 wird das Skelett gefunden. „Davon habe ich am 20. März 1988 erfahren“, rattert Kögel die Daten herunter. Im August 1988 tragen die Eltern und der Bruder Sabine zu Grabe, erst nach der Beerdigung gibt die Polizei bekannt, dass sie identifiziert werden konnte, damit der Kollege und seine Familie in Ruhe Abschied nehmen können.

Im Westen herrscht im Sommer 1985 große Angst

Im Juli 1985 ist eine Stadt in Aufregung, ein Stadtbezirk in großer Angst. Alle Eltern, alle Kinder fürchten sich vor dem Unbekannten. Es gibt einen klaren Hinweis, von dem Josef Kögel auch nach 30 Jahren noch überzeugt ist, dass er zum Täter führt. Ein Mann soll Sabine angesprochen haben. Mit welcher Masche, das legt die Meldung einer anderen Mutter nahe, deren Kind am selben Abend aufgelöst nach Hause kommt: Das Mädchen berichtet von einem Mann, der sie bat, ihr den Weg zum Westbahnhof zu zeigen. Das Kind weiß gleich, dass der Fragesteller nicht die Wahrheit sagt, und widersteht daher seinem Angebot von zehn Mark für ihre Hilfe. Der Fremde stellt sich als Kinderarzt vor. Den Namen kennt das Mädchen, sie ist Patientin bei jenem Arzt im Stadtviertel. Den Mann, der vor ihr steht, kennt sie nicht. Sie reagiert richtig, sagt „Nein“ und geht rasch heim. „Diese Beschreibung ist für uns so wichtig gewesen, weil wir sie bekommen haben, bevor die große Suche losging“, sagt Josef Kögel. Das Mädchen habe noch nicht unter dem Eindruck der Fahndungsaufrufe und der sorgenvollen Suche, der Ängste der Eltern um ihre Sprösslinge in den Tagen nach dem 17. Juli 1985 gestanden. Und: „Kinder sind sehr gute Beobachter, bis auf Größe und Alter sind ihre Beschreibungen sehr zuverlässig“, fügt Kögel hinzu.

Den wichtigsten Zeugenhinweis gab die Polizei nie preis

Doch nicht nur die Beobachtung des Mädchens gibt ihm bis heute die Gewissheit, dass der Entführer und Mörder der Sabine Hammerich jener falsche Kinderarzt gewesen sein muss: „Es gab noch einen zweiten Hinweis, der bis heute nicht öffentlich geworden ist: Ein Zeuge hat die Kontaktaufnahme zwischen Sabine und dem Mann gesehen“, verrät Kögel 30 Jahre später. Der Mann habe sich nach der Sendung „Aktenzeichen XY. . .   ungelöst“ gemeldet. „Er stand an der Ampel an der Ecke Rosenberg-/Schwabstraße und hatte es sehr eilig. Als er losfuhr, musste er noch mal bremsen, weil der Autofahrer vor ihm ein Mädchen im gelben Kleid ansprach“, berichtet Kögel von der Zeugenaussage. Der Mann habe sich zunächst nicht gemeldet, weil er sich immer in der Zeit geirrt hatte. „Er musste zu einem Termin und war spät dran, daher wusste er genau, wann er an der Kreuzung war. Nur hatte er sich immer eingebildet, dass der Zeitpunkt der Entführung 19.30 Uhr war.“ Seine Aussage gilt als zentraler Hinweis auf den Täter.

Es gibt noch eine Spur, die verfolgt wurde. Um exakt 19. 16 Uhr sah eine ältere Frau im Leonberger Stadtteil Warmbronn einen VW-Bus mit Pforzheimer Kennzeichen. In dessen Innenraum meint sie einen nackten Kinderkörper gesehen zu haben. „Wir haben alle in Frage kommenden Fahrzeuge überprüft. Es führte zu nichts“, sagt Kögel. Zudem hielten es die Ermittler für unwahrscheinlich, dass sich der Mörder mit dem toten Kind so kurz nach der Tat so unvorsichtig zeigen würde. In den Tagen nach dem Verschwinden der kleinen Sabine Hammerich sucht die Polizei unter Hochdruck. Es sind Bilder, die heute noch gespenstisch wirken: Schwarz-Weiß-Fotos von Feuerwehrtauchern im Feuersee, Polizeibeamte, die an der Schwabstraße Berge von Flugblättern mit dem Phantombild des Mannes verteilen, der sein Haar so seltsam in die Stirn gekämmt haben soll. „Wir haben mit fünf Hundertschaften gesucht. Vom Kräherwald bis zum Waldfriedhof und bis zur Solitude“, sagt Kögel. Dass sie Sabine nicht mehr lebend finden würden, hätten sie bald befürchtet. Die Hoffnung, sie noch lebend zu finden, sank mit jeder Stunde. Wenn Kögel an der Straßenecke vorbeifährt, an der Ecke anhalten muss, wo genau neben der Fußgängerampel der Zigarettenautomat hing, denkt er immer an den Fall. Er habe sich damals von einem erfahrenen Kollegen ausquetschen lassen. „Stundenlang hat er mich gefragt: Habt Ihr an dies gedacht, an das. Am Ende wussten wir: Wir haben alles getan“, sagt Kögel. Der Fall habe ihn bis zu seiner Pensionierung 1995 begleitet, fügt er hinzu. Und auch danach war nicht wirklich Schluss: „Ich frage mich heute noch, warum das nicht zu klären war.“ Eine Antwort weiß er nicht.