Die Gelbkopfamazone ist in ihrer Heimat vom Aussterben bedroht. In Bad Cannstatt gehört sie seit 20 Jahren zum Stadtbild.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Stuttgart - Die Gelbkopfamazone ist in ihrer Heimat vom Aussterben bedroht. In Cannstatt gehört sie seit 20 Jahren zum Stadtbild. Die 48 Amazonen sind die einzige frei lebende Population außerhalb Amerikas. Experten geben sie Rätsel auf.

 

Eisenbahnstraße, Bad Cannstatt. Der erste Schrei gellt um 6.35 Uhr durch die Dämmerung. Der Krawall schwillt an zum Duett, Terzett, Quartett. Wenige Sekunden später verkündet ein ganzer Chor in dramatischem Sopran, dass man vollzählig den Tagesanbruch erwartet. Die Matinee dauert ungefähr eine Viertelstunde. Tägliche Aufführungen, immer kurz vor Sonnenaufgang.

Ihre Köpfe leuchten gelb und sie sind immer gut gelaunt

Wer sie nicht kennt, reibt sich die Augen. Auf den kahlen Platanen sitzen im trüben Nieselregen quietschgrüne Vögel mit leuchtend gelben Köpfen, gut genährt, bei bester Gesundheit und prächtig gelaunt. Sogenannte Gelbkopfamazonen streifen seit vielen Jahren durch Cannstatts Häuserschluchten und Parkanlagen, eine Papageienart tropischer Herkunft, laut Washingtoner Artenschutzabkommen vom Aussterben bedroht und gewöhnlich noch in Mittelamerika anzutreffen. In Stuttgart gehört sie nach zwanzig Jahren Wohnsitz zur heimischen Vogelwelt.

Die meisten Cannstatter schätzen die reingeschmeckten Mitbewohner. Die Farbklekse in den Bäumen erfrischen das Gemüt, die Schreie verkünden südländische Lebensfreude, ob im Zahnarztwartezimmer oder im Feierabendstau auf der Daimlerstraße. Kinder, die in Cannstatt aufwachsen, nennen den Papagei in einem Atemzug mit Fuchs und Hase. Ältere Mitbürger legen ihm Sonnenblumenkerne ins Futterhäuschen. Und Neu-Cannstatter alarmieren bei seinem Anblick den Zoodirektor: "Sie, da ist einer ihrer Vögel ausgebüxt."

Ihre Herkunft ist und bleibt wohl ein kleines Geheimnis. Fest steht, dass eines Tages im Jahr 1984 eine Gelbkopfamazone in der Wilhelma auftauchte, vermutlich ein entflohenes Haustier. Da Papageien gesellige Tiere sind, besuchte der Vogel jeden Morgen seine Artgenossen. Irgendein Zoomitarbeiter muss Mitleid mit dem einsamen Vogel gehabt haben, so spekuliert die Vogelzeitschrift "Falke". Denn exotische Tiere freizulassen, ist rechtlich untersagt. Trotzdem hatte Adam eines Tages eine Eva. Offiziell hat die Wilhelma eine weiße Weste, besaß sie doch keine Papageien dieser Art im Bestand. Das Tier wurde wahrscheinlich in einer Zoohandlung aufgetrieben.

Die Vermehrung war schieres Glück

Das populationsbiologische Experiment gelang. Dass ein Männlein auf ein Weiblein traf und das Paar überdies Gefallen aneinanderfand, war schieres Glück. Denn Papageien sieht man das Geschlecht nicht an. Außerdem sind sie bei der Partnersuche wählerisch. Diese beiden waren von Anfang an unzertrennlich. Wichtiger noch: sie hatten erstklassige Gene. Trotz heftiger Inzucht erfreut sich die Nachkommenschaft hoher Intelligenz und guter Gesundheit. Bereits im Herbst 1986 sichtete man eine fünfköpfige Familie, bis 1995 wuchs die Gruppe auf 30 Tiere an. Im vergangenen Herbst zählte der Naturschutzbund 48 Tiere.

Nach dem Morgengesang fliegen sie aus zum Frühstücken. In Fressgemeinschaften aus vier, fünf Vögeln pendeln sie zwischen Cannstatter Kurpark, Rosensteinpark und Unterem Schlossgarten hin und her. Gesehen wurden sie auch in Feuerbach und Fellbach. Doch ihr Hauptrevier ist die milde Klimazone rund um die Wilhelma. Michael Schmolz vom Naturschutzbund vermutet, dass sich die Vögel in der "halboffenen Feldflur" der Parklandschaft wohlfühlten. "Sie erinnert sie vermutlich an die Savannenlandschaft in Mittelamerika."

Wer einen üppigen Strauch oder Baum gefunden hat, schreit es den anderen zu. Sie verleiben sich ein, was die hiesige Pflanzenwelt zu bieten hat, von der Ahornrinde bis zur vertrockneten Zwetschge. Selbst hochgiftige Eiben- und Robiniensamen verzehren sie mit Genuss. "Fünf Schoten davon, und ein Pferd würde tot umfallen", sagt der Vogelforscher Dieter Hoppe aus Esslingen. Wie die Papageien diese fremden Nahrungsquellen unbeschadet entdeckt haben, ist dem Experten ein Rätsel. Vermutlich fressen sie Erde, um die Gifte zu neutralisieren, sagt Hoppe.

Ein Leben wie im Schlaraffenland

Sie speisen verschwenderisch, knicken mit einer Kralle ganze Zweige ab, knabbern das weg, was ihnen vor den Schnabel kommt und lassen den Rest fallen. Ein Leben wie im Schlaraffenland, mit wenigen natürlichen Feinden. Die Wanderfalken, die in Münster und am Gaskessel nächtigen, bevorzugen Stadttauben. Auch Habicht, Steinmarder und Sperber lassen den wehrhaften Vogel bis jetzt in Ruhe. Die Rabenkrähen haben es anfänglich mit Einschüchterungsversuchen versucht. Die Neubürger quittierten diese mit "Sturzattacken aus der Luft", wie Dieter Hoppe in einem seiner Aufsätze festhielt. Seither herrscht Frieden. Auch der Naturschutzbund hat seine Aufenthaltsgenehmigung erteilt. "Bisher können wir nicht erkennen, dass sie das Gleichgewicht unserer Flora und Fauna stören", sagt Michael Schmolz von der Nabu-Gruppe Stuttgart.

Einzig der genervte Bürger kann dem Vogel gefährlich werden. Lärmempfindliche Anwohner schmeißen schon mal mit Wasser oder Gegenständen nach ihm, vor allem im Sommer, wenn bereits um vier Uhr krakeelt wird, ebenso heikle Stücklebesitzer, die sich am Ernteertrag ihres Obstbaums messen. Autobesitzer schicken Verwünschungen gen Himmel, wenn sie ihren hochglanzpolierten Flitzer bekotet antreffen. Es kam auch schon vor, dass der Chor auf Begräbnissen im Pragfriedhof auftrat und dem Trauerredner das Wort nahm.

Einen braven Cannstatter Unternehmer haben die Papageien sogar zum Mord verleitet. An einem sonnigen Morgen im Jahr 1996 griff der Kurparkanwohner zum Luftgewehr und erschoss eine Amazone, die sich gerade an seinem Haselnussstrauch bediente. Er legte den Leichnam in die Gefriertruhe. Zwei Jahre später schoss er einen zweiten Vogel an, der entkam flügellahm und lieferte der Polizei das entscheidende Indiz: das Bleiprojektil Diabolo. Der örtliche Waffenhändler half weiter. Der Mann wurde zu einer Strafe von 2250 Mark verurteilt, zuzüglich den Tierarztkosten für den angeschossenen Vogel. Der behinderte Papagei lebt heute bei Pflegeeltern, das andere Opfer steht, dank der Tiefkühlung, ausgestopft im Rosensteinmuseum.

Sie können über 100 Jahre alt werden

Weitere Todesfälle sind nicht bekannt, mit Ausnahme eines Unfallopfers. Ein Vogel prallte unglücklich gegen eine Scheibe und verschied. Zwei weitere mussten wegen leichter Verletzungen ins Tierheim. Altersschwäche spielt noch keine Rolle. Selbst die Stammeltern befinden sich in der Blüte ihres Lebens. Gelbkopfamazonen können über 100 Jahre alt werden.

Gegen zehn Uhr beendet die Fressgemeinschaft das dreistündige Frühstück-eine Mahlzeit im Frühling besteht aus mindestens 1000 Knospen. Die Pärchen ziehen sich zurück, ein jedes in seinen Ruhebaum. Die nächsten Stunden sind äußerst intim: Sie kraulen sich gegenseitig den Kopf, bringen ihr Gefieder in Ordnung, stopfen sich vorverdaute Leckereien in den Hals. Wenn sie schlafen, sitzen sie eng beieinander, wenn sie fliegen, berühren sich fast ihre Flügel. Gelbkopfamazonen sind sich wie die Schwäne treu bis zum Tod. "Stirbt ein Partner, verendet bald auch der andere oder versinkt in Apathie", sagt Dieter Hoppe.

Die Mittagspause dauert vier bis fünf Stunden. Bei Minusgraden ziehen sie ihre Krallen im Wechsel unter das Federkleid. Wie die Tropenvögel das gemäßigte Klima in Deutschland aushalten, ist der Fachwelt ein Rätsel. "Sie besitzen kein Daunengefieder wie die heimischen Vögel", sagt Hoppe. Dass sich die Papageien in S-Bahn-Unterführungen und in Luftschächten von Kaufhäusern aufwärmen, sei eine Mär. Die Vogelexperten glauben eher, dass die Tiere sich ordentlich Winterspeck zulegen. Nahrung finden sie in Hülle und Fülle.

Möglicherwese treiben Vogelfänger ihr Unwesen

Und trotzdem wächst die Population seit zehn Jahren nicht mehr. Ein weiteres Rätsel. Die Experten sind sich bei der Ursachensuche nicht einig. Hoppe will nicht ausschließen, dass Vogelfänger ihr Unwesen treiben. Immerhin kostet ein Tier in der Zoohandlung 1500 bis 2000 Euro. Michael Schmolz vom Naturschutzbund glaubt eher, dass viele Pärchen keine geeignete Bruthöhle mehr finden. Um die wenigen attraktiven Baumhöhlen in der Umgebung konkurrierten sie mit Hohltauben, Dohlen und Waldkäuzen, so Schmolz. Günther Schleussner, der Vogelkurator der Wilhelma, vermutet außerdem, dass sich einzelne Gruppen abgespalten haben. Das wiederum kann sich Dieter Hoppe nicht vorstellen. "Das wäre wider die Natur", sagt er.

Die Liste ungeklärter Fragen ist lang - die Zahl wissenschaftlicher Studien zu dem Unikum dagegen verschwindend gering. Für den leidenschaftlichen Papageienforscher Hoppe, der seit dem fünften Lebensjahr die Vogelwelt studiert, ist das unbegreiflich. "Wir erleben ein außergewöhnliches Beispiel für Invasionsbiologie", sagt er. "Wie kann es sein, dass sich kein Diplomand für das Thema erwärmt?" Vogelkurator Günther Schleussner erkennt hingegen "keine drängenden Fragestellungen". Man könnte auch Goldfische im Baggersee aussetzen und schauen, was passiert, sagt er.

Ganz anders ist der Forscherdrang in Heidelberg und Wiesbaden, wo seit dreißig Jahren die weniger kuriosen Halsbandsittiche leben. Vier wissenschaftliche Arbeiten liegen vor, über ihre Verbreitung, die Auswirkungen auf die heimische Vogelwelt, über das Brutverhalten und zur Gehirntätigkeit der Vögel. Auch das Stadtmarketing hat den Halsbandsittich entdeckt, vertreibt einen Vogelkalender und unterstützt den Exoten mit Nistkästen. Viermal im Jahr finden Führungen statt. "Es gibt kaum jemanden in der Region, der die Halsbandsittiche nicht kennt", sagt der Heidelberger Biologe Michael Braun. In Stuttgart hat man den Marketingwert der Amazone noch nicht erkannt. "Ein Projekt für die Zukunft ist durchaus vorstellbar", heißt es vage bei der Stuttgarter Stadtmarketing-Gesellschaft.

Am Nachmittag wird wieder krakeelt. Die Fressgemeinschaften sammeln sich zur zweiten Mahlzeit. Bis zur Dämmerung dauert die Futtersuche. Kurz vor Sonnenuntergang versammeln sich die Vögel auf einigen Baumgruppen nahe dem Neckar und verkünden ihre Gruppenstärke. Gemeinsam fliegen sie zurück zu ihrem Schlafplatz in der Eisenbahnstraße und lassen sich nieder, pro Baum ein bis zwei Paare, so viel Abstand muss sein. Ein paar Schlaflieder kreischen sie noch, bevor einer nach dem anderen verstummt.