Vor 70 Jahren versank das alte Stuttgart während des totalen Luftkriegs in Schutt und Asche – allein 27 000 Brandbomben fielen auf die Stadt. Etwa 4500 Menschen verloren ihr Leben. Zwei Zeitzeugen erinnern sich an jene Minuten, die im Bunker zur Ewigkeit wurden.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Als die Bomben an jenem 26. Juli 1944 fielen in der Nacht um 1.45 Uhr, saß Erna Doh im Bunker der Frauenklinik in der Bismarckstraße. Sie war hochschwanger, die Geburt konnte jeden Moment beginnen – doch obwohl sie sich so auf das Kind gefreut hatte, verlor sie jetzt, da die Erde wackelte, „als würde ein Güterzug unterirdisch durchfahren“, jeglichen Mut. In einem Brief, den ihr Sohn Gerhard jetzt der StZ anvertraut hat, schrieb sie Jahrzehnte später: „Ich selbst hatte innerlich mit dem Leben abgeschlossen und war bereit, dem Kommenden eiskalt entgegenzusehen. Ich konnte nicht mehr beten, hielt aber meinen Rosenkranz wie eine Waffe in meiner Hand versteckt. Ich konnte nicht mehr an mich und mein Kind denken. Es war wie: In Deine Hände empfehle ich meinen Geist.“

 

Es waren die schlimmsten Tage, die die Menschen jemals in der vielhundertjährigen Geschichte Stuttgarts durchleiden mussten. Niemals zuvor sind in so kurzer Zeit so viele Menschen umgekommen, hat die Stadt eine so große Zerstörung hinnehmen müssen: „Selbst im Dreißigjährigen Krieg gab es diese Intensität an Leiden nicht“, stellt Roland Müller fest, der Leiter des Stuttgarter Stadtarchivs. Vom 25. bis zum 29. Juli, in vier von fünf Nächten, ruhelos, flogen Bomber aus England heran: Lancasters, Mosquitos, Halifaxes, Stirlings.

Nach dem Krieg gleicht Stuttgart einer Trümmerlandschaft: Das Ausmaß der Zerstörung im Jahr 1946

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Die ersten Flugzeuge waren immer Pfadfinder, die Markierungsleuchten absetzten. Christbäume sagten die Deutschen dazu, so hell war der Nachthimmel erleuchtet. Dann kamen die Bomber. 550 waren es in dieser besonders schlimmen zweiten Nacht, weil die Angreifer nun fabrikneue Hochexplosivbomben an Bord hatten und 27 000 sogenannte J-Bomben abwarfen, die beim Aufschlag einen neun Meter langen Flammenstrahl ausspieen – die Engländer hatten erkannt, dass ihre Angriffe besonders effektiv waren, wenn sie mit Sprengbomben nicht nur die Gebäude zerstörten, sondern mit Brandbomben auch viele Feuer in der Stadt entfachten.

Um den Marktplatz herum wogte ein Flammenmeer


Die deutsche Luftabwehr hatte den Angriffen kaum noch etwas entgegenzusetzen, wie Heinz Bardua schreibt. Er schrieb in den 1960er Jahren das Buch „Stuttgart im Luftkrieg 1939–1945“, das bis heute das Standardwerk zum Thema ist. Zwar registrierten deutsche Radarstationen an den Küsten schnell jegliche Überflüge feindlicher Bomber, aber diese flogen meist im Zickzack über Deutschland, um möglichst lange ihr Ziel zu verheimlichen. Deutsche Jagdflugzeuge gab es kaum noch, an der Flak standen halbe Kinder und Jugendliche (eine Redensart lautete damals: „Daneben, mehr daneben, Flak“), und die chemische Vernebelung, die einen milchigen Schleier über die Stadt legen sollte, funktionierte kaum noch. Manchmal heulten in Stuttgart erst dann die Sirenen, als die Menschen schon die ersten Bomben hörten.

Roland Müller beschreibt in seiner Arbeit über Stuttgart im Dritten Reich das Ausmaß des Angriffs am 26. Juli mit diesen Worten: „Die erste Welle löste in der Stadt derartige Brände aus, dass die Schützen in den Flugzeugen der zweiten Welle keine Ziele mehr erkennen konnten.“ Vor allem um den Marktplatz herum wogte ein Flammenmeer. Die Feuerwehr versuchte noch, das Rathaus und die alten Bürgerhäuser zu retten, doch den Versuch, eine Wasserleitung zu legen, musste sie aufgeben: Überall standen Feuerwände. Oberbürgermeister Karl Strölin vermerkte in dem Bericht, den er wenige Tage später vor dem Gemeinderat ablegte: „Dieser schwere Schicksalsschlag erfordert viel Nervenkraft und Selbstbeherrschung.“

Nach den Juli-Angriffen liegt die Innenstadt in Trümmern

884 Menschen starben während der vier Juli-Angriffe, 100 000 Menschen wurden obdachlos, die Innenstadt war zerstört. Die Stuttgarter waren sich der Einzigartigkeit der Ereignisse bewusst: In den Zeitungen erschienen Nachrufe auf das „alte Stuttgart“.

Erna Doh überlebte. Und das, obwohl auch die Frauenklinik einen Volltreffer abbekam. „Auf einmal erschütterte ein schwerer Schlag das Haus, und die Leute weinten und schrien. Es brannte nur noch das Notlicht“, erzählt sie in ihrem Brief. Als sie später den Bunker verlassen konnte, sah sie, dass ihr Zimmer im dritten Stock verschwunden war: Genau dort war die Bombe hindurchgerauscht. Sie schaffte es an jenem Tag noch, nach Schorndorf zu kommen. Dort kam ihr Sohn am 29. Juli zur Welt. Er wird also jetzt 70 Jahre alt.

Warum Stuttgart damals ins Visier der Alliierten geraten war, wird unter den lokalen Historikern wenig diskutiert. Zwar habe England wichtige Industriezweige treffen wollen, sodass Stuttgart unweigerlich zu den zehn wichtigsten Zielen gehörte. Und die Juli-Angriffe seien auch ein Racheakt der Engländer gewesen für einen Beschuss Londons mit V-1-Raketen. Aber sowieso hätte eine Großstadt wie Stuttgart irgendwann mit großen Angriffen rechnen müssen – das war ein Teil der irrsinnigen Logik dieses Krieges, bei dem die Alliierten wie die Deutschen bewusst die Zivilbevölkerung angriffen. Nur war den Deutschen die Munition ausgegangen.

Etwa 180 Bunker für 50 000 Menschen

Im Gegensatz zu Hamburg oder Dresden kam Stuttgart aber fast glimpflich davon – in Hamburg fielen den Angriffen im Juli 1943 mehr als 30 000 Menschen zum Opfer, in Dresden starben in der Nacht zum 14. Februar 1945 rund 25 000 Menschen. Die große Differenz bei den Opferzahlen hat mit der unterschiedlichen Zahl der abgeworfenen Bomben zu tun, aber auch mit den Vorkehrungen, die in Stuttgart getroffen worden waren.

So erzählt Roland Müller, dass die Verantwortlichen in Stuttgart sehr genau die Berichte über Angriffe in anderen Städten ausgewertet hätten – dabei sei deutlich geworden, dass die Bunker oft dem Druck der Bomben standgehalten hatten, die Eingänge aber verschüttet waren. Die Menschen kamen nicht mehr raus. So ordnete Stuttgart an, dass in den Kellern Durchbrüche zu den angrenzenden Häusern angelegt werden sollten. So konnte man im Notfall von Keller zu Keller flüchten, bis ein Eingang frei war. Daneben wurde es den Bürgern nach anfänglichen Sicherheitsbedenken der Behörden erlaubt, selbst Schutzräume in den Hängen anzulegen. Etwa 180 Bunker für 50 000 Menschen entstanden. Die grundlegende Regel lautete dabei: Nur wer mithalf, durfte auch in den Bunker rein – man musste im Besitz einer „Dauerkarte“ sein. Trotzdem gab es in Stuttgart nicht genügend Platz für alle: Stadtteile wie Möhringen oder Stammheim besaßen fast keine Schutzräume.

Der zweite, weitaus größere Schlag kam im September 1944

Auch Hannelore Sick hat damals als 17-jähriges Mädchen Loren geschoben, um einen Platz im Bunker unter der Herz-Jesu-Kirche in Gablenberg zu ergattern. Seit 1938 lebte sie in Stuttgart. Bei den Juli-Angriffen hatte die Familie Glück – sie erholte sich gerade ein paar Tage im Glottertal im Schwarzwald. Doch für die Alliierten war ihr Werk in Stuttgart nicht vollendet: Am 12. September 1944 holten sie zu einem weiteren großen Schlag aus. Es war nach der offiziellen Zählung der 27. von 53 Luftangriffen auf die Stadt.

Gerade 31 Minuten dauerte dieser Angriff. Er begann kurz vor elf Uhr am Abend, Hannelore Sick war schon im Bett. Schnell habe sie sich den dreijährigen Nachbarjungen geschnappt und sei mit ihm die fünf Minuten bis zum Bunker gerannt: „Ja, ich hatte Todesangst“, bekennt die heute 87-jährige rüstige Dame, die im Augustinum in Riedenberg lebt. Der Schutzraum sei überfüllt gewesen und kaum beleuchtet, immer wieder habe die Erde gebebt. Trotzdem hätten viele versucht zu schlafen: „Wir waren immer todmüde – im Bunker haben sich die Menschen an den Armen eingehängt, um auch im Stehen zu schlafen.“

957 Menschen sterben in Stuttgart

Nach dem Angriff rief man sie mit dem Megafon aus den Schutzräumen: „Raus – löschen!“, hieß es. Doch draußen tobte ein Feuersturm. Zu dritt hätten sie sich festhalten müssen, um vom Sog des Luftstroms nicht fortgerissen zu werden, sagt Hannelore Sick. Vor allem im Westen rund um die Hegel- und Hölderlin-straße hatte sich ein solcher Sturm entwickelt: Dabei stieg erhitzte Luft nach oben, und frische Luft strömte von außen nach – dieser Kamineffekt verursachte große Zerstörungen, da Brände weiter angefacht wurden. Die Alliierten strebten bewusst solche Feuerstürme an.

Karl Strölin schrieb über die Brände: „Der Feuersturm war so stark, dass Teile von Wellblechdächern bis zu sechs Quadratmeter Fläche wie Bettfedern durch die Straßen flogen. Die Straßen waren in Zeitkürze durch Trümmer schwer passierbar oder versperrt. Die Luft war angefüllt von dem rasenden Funkenflug, von Rauch und ungeheurer Hitze.“

Hannelore Sick hat sich in diesem Chaos am Fuß verätzt, weil sie in einen Phosphorfladen getreten ist, den eine Brandbombe zurückgelassen hatte. Viel schlimmer aber war, dass auch ihr Haus von einer Bombe getroffen wurde und lichterloh brannte – die Familie Sick konnte nichts mehr aus dem Gebäude retten. „Meine Mutter hat ständig geweint“, erinnert sich Hannelore Sick: „Ich wusste nicht mehr, wie ich sie noch trösten sollte.“ Laut Heinz Bardua starben in jener Nacht 957 Menschen in Stuttgart, und Roland Müller sagt: „In der Innenstadt vollendete dieser Angriff, was im Juli begonnen worden war.“

Später werden Angriffe als unabwendbare Fügung gesehen

Wie die Menschen diese ständige Furcht vor Angriffen ausgehalten haben, das fragt sich Roland Müller immer wieder. Hannelore Sick sagt, die Menschen hätten sich stark verändert: „Sie waren noch sorgenvoller und nur noch ein Schatten ihrer selbst.“ Man habe versucht durchzuhalten: „Doch die deutsche Volksgemeinschaft war eine Kellergemeinschaft geworden.“

Hass gegen die Alliierten hat sie nicht gespürt – ihre Eltern hatten Verwandte im Ausland, vielleicht war die Familie deshalb nicht so eindimensional im Denken. Doch einmal ging sie an einem bombardierten Haus vorbei, als Helfer gerade ein zweijähriges Kind tot heraustrugen. Da übermannten auch Hannelore Sick die Gefühle: „Die Engländer sind doch immer für Fairplay, und jetzt bringen sie unschuldige Kinder um.“

Heinz Bardua hatte schon in den 1960er Jahren Kontakt nach England. Ein Angehöriger der Royal Air Force, der auch Angriffe auf Stuttgart geflogen hat, schrieb ihm, das er es sehr bedauere, dass der Stadt solcher Schaden zugefügt worden sei. Aber er habe auch erleben müssen, wie befreundete Soldaten umgekommen und wie Nachbarn durch deutsche Bomben getötet worden seien. Sein Fazit lautet: „Wir sind alle Opfer der Zeiten, in die wir hineingeboren wurden.“

Notwehr, das war die gängigste Begründung der Alliierten für den Luftkrieg. Umgekehrt sahen in Deutschland auch spätere Generationen im Bombardement fast eine unabwendbare Fügung, da alle Städte gleichermaßen betroffen waren. Wie unumgänglich diese Luftangriffe auf Stuttgart aber waren und wie sie im Schatten der nationalsozialistischen Verbrechen historisch zu bewerten sind, wurde nie wirklich untersucht. Vermutlich, weil diese Diskussion auch 70 Jahre nach den Ereignissen nicht unbefangen geführt werden kann.

Auch der Stuttgarter Westen wird schwer von den alliierten Luftangriffen 1944 getroffen. Nahe der Russischen Kirche lebte damals die Bäckersfamilie Wagner, deren Schicksal wir in einer digitalen Multimedia-Reportage - angereichert mit zeitgenössischen Dokumenten, Fotos und Videos - erzählen möchten. Dieses Spezial ist in Kooperation mit dem Stadtarchiv Stuttgart entstanden und hier einsehbar.

Die Geschichtswerkstatt „Von Zeit zu Zeit

Sie wollen noch mehr über die Geschichte Stuttgarts erfahren? Dann besuchen Sie die Geschichtswerkstatt „Von Zeit zu Zeit“ der Stuttgarter Zeitung. Das interaktive Portal ist in Kooperation mit dem Stadtarchiv entstanden und gibt Ihnen die Möglichkeit die Geschichte der Stadt mitzuschreiben. Wer sich als Chronist anmeldet, kann Fotos hochladen oder eigene Zeitzeugenberichte verfassen.